Serbiens Demokratiebewegung braucht Europa, 10.2.2025

 Alexandar Vucic und Albin Kurti, der serbische Präsident und der Regierungschef des Kosovo, sind die beiden Pole einer zunehmend instabilen Lage auf dem Balkan. In Pristina jubelt die linkspopulistische Regierungspartei Vetevendosja VV, zu deutsch Selbstbestimmung, über ihren Wahlsieg vom  Wochenende. Albin Kurti, ehemaliger Studentenführer und rebellischer Dissident, bekommt eine zweite Amtszeit. In Belgrad, 350 Kilometer nördlich, ist der serbische Präsident  mit der größten Protestwelle seit Jahrzehnten konfrontiert.

 Alexandar Vucic begann vor einem Viertel Jahrhundert seine Karriere als Propagandist des serbischen Kriegsherrn Slobodan Milosevic. Seit 12 Jahren betreibt der begabte Machtpolitiker eine  Schaukelpolitik zwischen der Europäischen Union, Russland und China. Vucic regiert autoritär aber er gewann  auch Wahlen.  Eine Antwort auf die jüngsten Massenproteste gegen die staatlich organisierte Korruption hat er  keine gefunden.  Die Universitäten sind besetzt. Hunderttausende Studierende haben die  Belgrad, Novi Sad und andere Städte blockiert.

  Ausgangspunkt waren die Lügen des Regimes beim Zusammenbruch des nagelneuen Vordachs am Bahnhof von Novi Sad am 1.November 2024. 15 Menschen wurden getötet.  Dahinter stand ein ganzes System  verbrecherischer Baufirmen, die Vorschriften systematisch verletzen und mit korrupten staatlichen Stellen verbunden sind.  Die Demonstranten verlangen, dass  alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ihr Symbol sind die rot gefärbten Hände, für das Blut, das die Regierung vergossen hat.

  Die Forderung, dass die Justiz ihre Arbeit machen soll, zielt auf das Herz des  Vucic-Regimes, urteilt der Wiener Balkanexperte Vedran Dzihic. Es ist nichts unpolitisches dran, denn das gesamte System der regierenden Serbischen Fortschrittspartei SNS beruht auf Korruption mit  Scheinrechnungen und gestohlenem Geld.  Vucic kann nicht reinen Tisch machen, denn dann würde seine Macht wie ein Kartenhaus zusammen brechen. In der serbischen Führung ist man extrem nervös, sagt der Politikwissenschaftler.

      Den Staatsapparat hält Vucic nach wie vor fest im Griff. In den ländlichen Gebieten und bei der älteren Generation kann er auf Unterstützung zählen. An den Demonstrationen, die in immer neuen Wellen kommen, nehmen jedoch viele verschiedene Berufsgruppen teil. Zu den  Oppositionsparteien, die gegen Vucic in der Vergangenheit den Kürzeren gezogen haben, bleiben die Demonstranten auf Distanz. Ein  Endgame Szenario für einen Ausweg aus der Krise fehlt, gibt Balkanexperte Dzihic zu. Die Gefahr besteht, dass Vucic auf Zeit setzt.

 Wenn die politischen Eliten im ehemaligen Jugoslawien bedrängt sind, ziehen sie die nationalistische Karte. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic hat diese Methode perfektioniert. In dem von Serben bewohnten Mitrovica im Norden des Kosovo sind jahrelang Gelder und Extremisten aus Belgrad eingesickert. Die serbische Minderheit wurde angestachelt, die Zugehörigkeit zum neuen Staat Kosovo nicht anzuerkennen. In Mitrovica galt die serbische Währung, der Dinar, die Autos hatten serbische Nummerntafeln, obwohl die Region Teil Kosovos ist. Der Anlauf der Regierung in Pristina die gesetzlosen Zustände zu beenden führte zu gewaltsamen Zusammenstößen. Schon war von der Gefahr eines neuen Kosovokriegs die Rede. NATO und EU beruhigten, beide Seiten schreckten vor einer Totaleskalation zurück.

 Als Vucic für Diktator Milosevic einst die Propaganda organisierte, verbrachte Albin Kurti, sein heutiges Gegenüber in Pristina, als  Studentenführer in serbischen Gefängnissen. Auch nach der Unabhängigkeit des Kosovo 2008 blieb Kurti lange  Oppositioneller gegen die   Eliten des neuen Kleinstaates.  Seine linksnationalistische Partei Vetevendosje VV (Selbstbestimmung) wandte sich gegen Korruption und die Kompromissbereitschaft gegenüber Serbien. Bei 40 Prozent der Stimmen braucht Albin Kurti Partner, aber sein  Kurs wurde bestätigt.

 Alle Balkanstaaten streben in die Europäische Union, auch Kosovo und Serbien. Bei Konflikten hält sich Brüssel so lange wie möglich zurück. Albin Kurti wurde wegen seines offensiven Vorgehens gegen serbische Provokationen sanktioniert. Vucic hält man die Stange, weil man glaubt ein Abgleiten Serbiens in Richtung Russlands zu verhindern. Ein Fehler, urteilt Balkanexperte Vedran Dzihic, weil dadurch die Entfremdung zwischen Europa und der serbischen Zivilgesellschaft größer wird. Für Realpolitik der EU auf dem Balkan kann man Verständnis haben. Dass es von den europäischen Demokratien so gar keine positiven Signale in Richtung der demokratischen Massenbewegung Serbiens gibt, ist jedoch kurzsichtig.

ZUSATZINFOS

Beim Einsturz des Vordachs im Bahnhof von Novi Sad wurden am 1.November 2024 15 Personen getötet und Dutzende verletzt. Die Anti-Korruptionsdemonstrationen seither sind größer als beim Sturz des Diktators Milosevic 2000. Der serbische Ministerpräsident und der Bürgermeister von Novi Sad sind zurück getreten. Aleksandar Vucic dominiert die Politik Serbiens seit 2012