Die Europäer reden über militärische Vorkehrungen und Aufrüstung. In der NATO wollen die Mitgliedsstaaten den Richtwert von zwei Prozent des BIP für die Verteidigung ernst nehmen. Frankreich und Deutschland verlangen nach Brexit den Aufbau einer Verteidigungsunion. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker plädiert für eine europäische Armee, weil die USA die Verteidigung Europas auf Dauer nicht mehr garantieren werden. Russlands Angriff gegen die Ukraine hat gezeigt, wie falsch die Annahme ist, dass man sich um territoriale Integrität keine Sorgen mehr machen muss. Das zunehmende Chaos der Weltpolitik hat zu einer Grundsatzdebatte über Sicherheitspolitik in Europa geführt.
Seit dem Ende der Blöcke gibt es in Europa weniger Soldaten, Kampfflugzeuge und anderes Kriegsgerät als vor 1990. Die Militärbudgets sind kleiner geworden. Nur Balten und Polen haben aus Angst vor Russland ihre Militärausgaben merkbar erhöht. Aber die Osteuropäer fallen strategisch nicht ins Gewicht.
Die Wahl Donald Trumps zeigt, wie brüchig die amerikanische Verteidigungsgarantie geworden ist, die die Abrüstung der letzten 25 Jahre ermöglicht hat. Ihre Rolle als erste Weltmacht haben die Vereinigten Staaten durch ein System von Bündnissen und Verpflichtungen gefestigt, in dessen Zentrum die NATO steht. Der zukünftige Präsident hält von Allianzen wenig. Der Schutz schwacher Kleinstaaten ist für ihn herausgeworfenes Geld.
Trumps Nationalismus und Putins aggressive Großmachtpolitik sind neue Herausforderungen für die Sicherheitspolitik Europas.
Die Idee der militärischen Integration ist älter als die EU. In den 1950er Jahren scheiterte das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war noch zu lebendig. Erst nach der Katastrophe der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren hat man in der EU begonnen sich um Verteidigungspolitik zu kümmern.
In Brüssel gibt es inzwischen die Chefdiplomatin Federica Mogherini, einen Europäischen Auswärtigen Dienst, einen Militärstab und ein Büro zum Austausch von Geheimdienstinformationen. Mehr als ein Dutzend EU-Militärmissionen sind in Afrika, im Nahen Osten und auf dem Balkan im Einsatz. Aber zu einem Anlauf, um die Streitkräfte zusammen zu legen, ist es nie gekommen. Die USA waren das Verbindungsglied für die Europäer.
Dieses Modell läuft aus. In einer Analyse von seltener Klarheit zeichnet ein hoher Bundesheer-Offizier, der in Brüssel für den Nachrichtenaustausch zuständig war, unter dem sperrigen Titel „The necessity of an EU ‚Grand Strategy‘ of the twenty-first century and it‘s implications for EU Member States“ die strategischen Optionen. Kein einziger EU-Staat wird in Zukunft alleine fähig sein, sich gegen die globalen Player durchzusetzen, analysiert Günther Eisl in der Österreichischen Militärzeitschrift.
In den EU-Staaten stehen mehr Soldaten unter Waffen, als in den USA. Trotzdem ist Europa militärisch ein Zwerg. Dass jeder der 28 Verteidigungsminister eigene Panzer, Geschütze und Flugzeuge unterhält, ist sinnlose Verschwendung. Gleichzeitig fehlt das Geld für Satellitenaufklärung, Cyberdefence und all die anderen teuren Gadgets, ohne die keine ernsthafte Verteidigung denkbar ist. Der österreichische Experte belegt, dass eine europäische Armee langfristig die einzige Alternative zu einer Situation ist, in der Europa zum Spielball unberechenbar gewordener Atommächte wird, an deren Spitze Leuten wie Putin und Trump stehen.
Wenn die gegenwärtig grassierende nationalistische EU-Phobie einmal überwunden ist, wird eine europäische Armee fixer Teil eines neuen Kerneuropas sein müssen. Anders wird glaubhafte Sicherheitspolitik nicht möglich sein. Genauso wie für die Stabilität der Finanzen ein Euro-Budget und ein Euro-Finanzminister erforderlich sein werden, auch wenn das dem heutigen Zeitgeist widerspricht. Dass der österreichische Verteidigungsminister Distanz gegenüber Junckers Idee signalisiert, erstaunt. Glaubt jemand ernsthaft, dass ein Europa, das sicherheitspolitische hilflos ist, gut für Österreich sein kann?
Skeptiker warnen vor den kolonialen Traditionen Großbritanniens und Frankreichs. Die Sorgen haben eine reale Grundlage. Allerdings gäbe es in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess das Gegengewicht des Pazifismus in anderen Staaten. Großbritannien wäre der Irakkrieg erspart geblieben, wenn Tony Blair gezwungen gewesen wäre, auf die Antikriegsstimmung in Deutschland und Frankreich Rücksicht zu nehmen. Das Risiko militärischer Abenteuer einer europäischen Armee wäre geringer, als unverantwortliche Aktionen von Nationalstaaten, deren Konsequenzen dann trotzdem alle zu tragen haben. Die Europäer sollten Junckers Vorstoß ernst nehmen.