Was Erdogans Favoritenrolle in der Türkei bedeutet, 15.5.2023

Recep Tayyip Erdogan ist das Erfolgsmodell des nationalistischen Demagogen schlechthin, notiert die Washington Post. Jetzt geht er als Favorit in die Stichwahl. Der große Umschwung im ersten Wahlgang, von dem die vereinigte Opposition geträumt hatte, ist ausgeblieben. Ein Erfolg für den Sozialdemokraten Kemal Kilicdaroglu ist nicht unmöglich, aber schwierig, urteilt der Türkeiexperte Kenan Güngör, der selbst den Optimismus der Erdogan-Gegner geteilt hatte. Viele Oppositionelle sind demotiviert, auch wegen der Mehrheit des Regierungslagers im Parlament.

 Vor zwanzig Jahren  war Erdogan noch als proeuropäischer Islamist ans Ruder gekommen. Er schuf die Todesstrafe ab. Die kurdische Sprache wurde zugelassen. Mit der Einführung eines Präsidialsystems  begann jedoch der Umbau zu einem System, das  Politikwissenschaftler als „elektorale Autokratie“ bezeichnen. Wahlerfolge und Referenden wurden zur Zerstörung des demokratischen Spielraums eingesetzt.    

    Die Opposition will die Flinte nicht ins Korn werfen. Gelingt der Machtwechsel in Ankara, wären das ein Signal, dass das Abgleiten eines großen Landes zur Diktatur an den Urnen gestoppt werden kann. Aber auch die starke Zustimmung für das Regime im Wahlvolk, trotz Inflation, Misswirtschaft und staatlicher Übergriffe, hat globale Bedeutung.

 Die Türkei befindet sich in einer Schlüsselposition zwischen Europa, den Bürgerkriegsregionen des  Nahen Osten, Nordafrika und dem von Russland beanspruchten Einflussbereich. Putin freut sich, das ist klar, sagt Güngör.  Die Sanktionen gegen Russland hat Ankara nicht mitgemacht. Billiges russisches Gas half der Wirtschaft.  Erdogan betont seine Männerfreundschaft zu Putin, während er Joe Biden beschuldigte, die USA würden auf seine Ablöse hinarbeiten.  
  Eine der größten Herausforderungen jeder türkischen Führung wird der Umgang mit den vier Millionen geflüchteten Syrern sein. Kiricdaroglu verspricht eine Rückkehr der Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren. Erdogan prahlt mit der Vorstellung, hunderttausende Familien nach Nordsyrien umzusiedeln, wo zur Zeit protürkische Milizen und Kurden das Sagen haben. Jeder Plan erfordert die Zusammenarbeit mit den Europäern, die  den Wiederaufbau finanzieren müssten.

   Eine Neuauflage des einstigen Flüchtlingsdeals der Europäer mit der Türkei wird neuerlich aufs Tapet kommen, egal wer in Ankara regiert. Im Gegenzug für Milliardenhilfe aus Brüssel zur Versorgung der Flüchtlinge blockiert die türkische Küstenwache seit Jahren irreguläre Grenzübertritte in die Europäische Union. Ob Ankara an den  traditionellen Bündnispartnern in Europa und den USA festhält,  hängt auch davon ab, wie glaubwürdig  die Vorteile der Verbindung zum Westen für die türkische Bevölkerung sind.

  Kemal Kilijdaroglu hat den Wählern versprochen, dass er den Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union wieder aufnehmen wird. Die Popularität der EU in der türkischen Bevölkerung ist unverändert hoch. 65 Prozent befürworten nach einer Umfrage eine Mitgliedschaft. Die Zeit für  konstruktive Reaktionen der Europäer auf den Wunsch nach Annäherung ist knapp. Angesichts der geopolitischen Bedeutung der Türkei sollte sie genützt werden. Dass die Wiederaufnahme des unter Erdogan ausgesetzten Beitrittsprozesses bei einer Rückkehr zur Demokratie möglich ist, sollte in Brüssel klipp und klar ausgesprochen werden.

  Formal ist die Situation klar: die Türkei ist seit 1999 Beitrittskandidat der EU. Der Beschluss der Staats- und Regierungschefs war einstimmig, auch Österreich hat damals zugestimmt. Die Vorstöße aus Wien in den folgenden Jahren den Beitrittsprozess in aller Form abzubrechen fand im Kreis der Mitgliedsstaaten nie ausreichende Unterstützung. Die demokratischen EU-Freunde in der Türkei wären durch eine solche Entscheidung verraten worden.

 Die Türkei als Mitglied in der heutigen EU ist so  schwer vorstellbar wie der Beitritt der Ukraine, den die Europäer ebenfalls als politisches Ziel für die Zukunft bezeichnen. In beiden Fällen ist der Prozess der Annäherung selbst ein politisches Instrument, das im Fall der Türkei den demokratischen Kräften den Rücken stärken könnte.  Brüssel hat diese Chance bisher wenig genützt.

 Dass Erdogan in eine Stichwahl gehen muss, zeigt, dass die Türkei  keine Diktatur ist, trotz aller Bemühungen in diese Richtung. Mit seinem formidablen Block konservativer und selbstbewusster Muslime muss das Land in Zukunft rechnen. Millionen Bürger aus den armen Teilen Anatoliens verbinden ihren Aufstieg mit dem Präsidenten. Die kemalistischen Eliten der Städte mussten Platz machen für die Neuen vom Land. Diese Veränderungen werden bleiben, genauso wie die Gefahr des Missbrauchs durch den islamistische Demagogen an der Spitze. Das Land am Bosporus bleibt eine unberechenbare Regionalmacht. 

Klar ist: ein Erfolg der türkischen Opposition würde geopolitisch den Westen stärken und wäre eine gute Nachricht für die Ukraine. Als Hüterin des Bosporus, der Verbindung zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, wünscht sich Kiew, dass die Türkei in Zukunft bei russischen Sonderwünschen drei Mal hinschaut.    Schweden, dessen Beitritt zur NATO durch Erdogan aufgehalten wird, möchte dem Bündnis  beim NATO-Gipfel in Vilnius im Juli  beitreten. Das türkische Wahlvolk entscheidet mit darüber, wie gut sich Europa gegen die Bedrohung durch ein revanchistisches Russland rüsten kann.

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