Warum die Ukraine EU-Kandidat wird

 

 Vier Monate nach dem Beginn des russischen Krieges erhält die Ukraine frische Unterstützung aus dem Westen. Die Dimensionen sind spektakulär. Die USA, die das Gros der Waffenhilfe leisten, stellen eine Milliarde Dollar  zur Verfügung. Das Pentagon verspricht Artillerie, Anti-Schiffsraketen und Munition. Darunter auch Geschütze mit großer Reichweite, die man bisher zurückgehalten hat. Die Europäische Union wird diese Woche wohl grünes Licht zum Kandidatenstatus des umkämpften Nachbarstaates geben. 

  Politisch schließt sich der Kreis. In der Maidanrevolution 2014 waren in Kiew Hunderttausende mit blauen EU-Fahnen auf der Straße. Die Zivilgesellschaft wehrte sich gegen Putins Veto für die Verbindung mit Westeuropa. 2022 ist die  Öffnung zur EU  besiegelt.

  Die Ukraine hat sich die Allianz mit Europa und Amerika durch die Abwehr des russischen Überfalls militärisch erkämpft. Aber der Blutzoll des Krieges ist verheerend. Jeden Tag verlieren die Streitkräfte zwischen 200 und 300 Soldaten, zitiert die Washington Post einen Militärberater Selenskyjs.  Die russischen Verluste sind womöglich noch höher. Ein Fünftel des ukrainischen Territoriums ist besetzt und verwüstet.

  Die neoimperialistischen Ziele des russischen Angriffs treten immer klarer zu Tage. In der der okkupierten Stadt Cherson gilt der Rubel,  die  Besatzer geben russische Pässe aus. Ex-Präsident Dimitri Medwedew prophezeit, dass die Ukraine in ein paar Jahren von der Landkarte verschwunden sein wird. Duma-Abgeordneter Jewgeni Fjodorow will die Unabhängigkeit Litauens aberkennen. Im Ukrainekrieg kulminiert der Versuch des Kreml ein Roll back der  demokratischen Revolutionen von 1989 zu erreichen.

 Im Krieg entscheidet der Nachschub für  Waffen und die Durchhaltefähigkeit der Soldaten. Die russischen Militärführung kann auf riesige Ressourcen zurückgreifen.

  Der Überraschungserfolg der Ukrainer in den ersten Wochen erinnert Historiker an die Anfänge des spanischen Bürgerkrieges 1936. Die von der Linken mobilisierten Kämpfer, schlecht bewaffnet, aber hochmotiviert, vertrieben die faschistischen Rebellen aus den Großstädten. Vorerst. Denn unterstützt von Hitler und Mussolini kämpften sich die Franco-Truppen zurück. Drei Jahre später war die Spanische Republik besiegt. Ein entscheidender Grund: die Weigerung der Demokratien, der Republik militärisch beizustehen.

Den Fehler einer Neutralität, die in Wirklichkeit nur den Aggressoren hilft, begeht der Westen im Ukrainekrieg nicht.

  Sollte der Widerstandswille der Bevölkerung nachlassen, werden keine Superwaffen die Ukraine retten.  Der Kandidatenstatus der Ukraine für die Europäische Union ist die richtige Botschaft der Solidarität an die ukrainischen Bürger.

  Bis vor kurzem war in Brüssel die Skepsis gegenüber der Ukraine groß, weiß EU-Experte Stefan Lehne. Aber jede andere Entscheidung als grünes Licht wäre ein Sieg für Putin. Wenn der Krieg vorbei ist, wird es um den Wiederaufbau gehen. Die Finanzen werden aus Europa kommen. Brüssel bekommt damit einen Hebel um Rechtsstaatlichkeit und eine Eindämmung der Oligarchenwirtschaft durchzusetzen, was angesichts von Korruption und staatlicher Ineffizienz auch dringend nötig sein wird.  Einem Land, das es schafft eine russische Offensive zurückzuschlagen, darf man aber wohl zutrauen, die EU-Gesetze zu übernehmen, so Lehne.

  Solange gekämpft wird sind konkrete Schritte schwer vorstellbar. Die Beitrittsverhandlungen mit Polen haben zehn Jahre gedauert. Frankreichs Präsident Macron spricht gar von Jahrzehnten. Klar ist, dass sich auch die Europäischen Institutionen ändern müssen. Es muss in Zukunft weniger Blockademöglichkeiten und mehr  Mehrheitsentscheidungen  geben, sonst wird die EU unregierbar.

  Das Europäische Parlament plädiert für eine Veränderung der Europäischen Verträge. Frankreichs Emmanuel Macron möchte auf Dauer einen Europäischen Bundesstaat, so wie das auch im deutschen Regierungsprogramm steht. Ein Kerneuropa auf der Grundlage des Euro parallel zu einer vergrößerten Union steht immer wieder zur Debatte. Aber selbst auf dem Weg der Improvisation, ohne komplizierte Vertragsveränderungen, gab es in den letzten 15 Jahren tiefgreifende Reformen vom riesigen Post-Corona-Aufbaufonds bis zur militärischen Unterstützung der Ukraine, erinnert Lehne.

  Die Voraussetzung jeder erfolgreichen Entwicklung bleibt die Abwehr des russischen Krieges. Bisher sind nur zehn Prozent des versprochenen Nachschubs eingetroffen und so gut wie keine schweren NATO-Waffen an der Front,  sagen übereinstimmend  Militärexperten. Ein Alarmzeichen.  Dass die Ukraine trotzdem standhält liegt im Interesse aller: der Ukrainer, der Europäer und letztlich auch der von Putins Despotie im Bann gehaltenen Bürger Russlands.

ZUSATZINFORMATIONEN

Zeittafel

Bereits 2004 nach der Orangenen Revolution  gegen Wahlfälschungen will die Ukraine der EU beitreten.

2013 blockiert Präsident Janukowitsch auf Wunsch Putins ein fertiges Assozierungsabkommen.  Er wird in der Maidanrevolution gestürzt. Russland marschiert in der Krim ein.

24.2.2022: russischer Angriff auf die Ukraine

28.2.2022:  Präsident Selenskyi schickt den Aufnahmeantrag an die EU nach Brüssel.

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