Hongkong hat in den 150 Jahren als britische Kronkolonie seine Regierungschefs nie selbst gewählt. Chris Patton, der letzte Gouverneur, ist wie all seine Vorgänger von der Regierung ihrer Majestät ernannt worden. Die Perspektive freier Wahlen entstand für die südchinesische Metropole paradoxerweise erst durch die Gespräche über die Eingliederung in die Volksrepublik China 1997: das Grundgesetz über die Selbstverwaltung sieht für 2017 die demokratische Volkswahl des Verwaltungschefs vor.
Die Frage, ob innerhalb des von Deng Xiaoping erfundenen Modells „Ein Land, zwei Systeme“ eine demokratische Entwicklung möglich ist, hat jetzt zur größten Massenbewegung auf chinesischem Boden seit einem Viertel Jahrhundert geführt.
Ihre Freiheiten haben die Bürger Hongkongs nach dem Abzug der Briten behalten. Die Vielfalt der Medien und die Unabhängigkeit der Justiz blieben bestehen. Aus China vertriebene Dissidenten sind von Hongkong aus weiter aktiv. Regelmäßig erinnern Zehntausende an das Massaker am Tien An Mien-Platz 1989. Aber im Hongkonger Establishment wächst die Macht der mit Peking verbundenen Lobbys.
Der Mobilisierung der Studenten entzündete sich an der Entscheidung der Pekinger Führung, bei den Wahlen 2017 unliebsame Kandidaten durch eine Vorauswahl eines von oben eingesetzten Gremiums zu verhindern. Aus den Protesten ist die Hongkonger Regenschirmrevolution gegen den wachsenden autoritären Druck geworden. Mit ihren mit Slogans bemalten Schirmen wehren sich die jungen Demonstranten gegen Regengüsse und gegen das Tränengas der Polizei.
Die Bürgerbewegung mit dem sympathischen Namen Occupy Central with Love and Peace, die Teile des Hongkonger Finanzdistrikts besetzt hält, erinnert an die Anfänge der Demokratiebewegung auf dem ägyptischen Tahrir-Platz und an den Maidan in Kiew. Allerdings liegt die zentrale Staatsmacht, die von den Demonstranten herausgefordert wird, tausende Kilometer entfernt in der Hauptstadt Peking. Und dort fährt die Partei einen zunehmend harten Kurs.
In mehreren Städten wurden Dissidenten festgenommen, die sich mit der Hongkonger Protestbewegungen solidarisiert haben. In den staatlichen Medien ist von unverantwortlichen Abenteurern und ausländischen Unruhestiftern die Rede. Die digitale Zensur versucht eine Diskussion im Internet zu verhindern.
Die Sorge der Behörden, dass der Funke des Protests überspringen könnte, ist verständlich: soziale Proteste und Streiks sind in China keine Seltenheit. Sie richten sich zumeist gegen die Willkür lokaler Behörden und Korruption. In Hongkong wird die latente Unzufriedenheit erstmals zum gezielten Protest gegen das politische System. „Volk versus Partei“ bringt der britische Economist die explosive Dynamik auf den Begriff.
Die Unterschiede in der politischen Kultur zwischen Festland und Ex-Kolonie sind beträchtlich. Aber die Forderung nach mehr Demokratie ist keine Hongkonger Besonderheit. „Immer mehr Chinesen fragen sich, warum es eigentlich in Hongkong Freiheiten gibt, die ihnen verwehrt werden,“ analysiert der Wiener Chinaexperte Helmut Opletal. Nie zuvor war das Schicksal Hongkongs so eng mit der Entwicklung der Volksrepublik verbunden.
Zwei Wochen nach dem Beginn der Proteste häufen sich die Provokationen. Ferngelenkte Schläger attackieren die Besetzer. An einem ernsten Dialog scheinen die Behörden nicht interessiert zu sein. Gelingt es nicht die Aktivisten zu demoralisieren, steht das Schreckgespenst eines Militäreinsatzes nach dem Beispiel von Tiananmen 1989 im Raum. Damals gab es hunderte Tote.
Ein gewaltsames Abwürgen der Occupy-Bewegung wäre für ganz China ein Unglück. Die Situation ist anders als 1989. Im ganzen Land brodeln Konflikte. Keine dieser Krisen wäre entschärft, wenn man die aufmüpfigen Studenten von Hongkong niederwalzt. Je stärker sich die chinesische Wirtschaft entwickelt, desto pluralistischer wird die Gesellschaft. Die wichtigste politische Herausforderung besteht darin, die unvermeidlichen gesellschaftlichen Widersprüche friedlich auszutragen.
Hongkong war einmal Chinas Experimentierfeld für kapitalistische Finanzgeschäfte. Jetzt könnten die Machthaber auch Dialog und politischen Pluralismus testen. Das Politbüro in Peking müsste sich trauen grünes Licht für einen Kompromiss zu geben. Das umstrittene Komitee für die Kandidatenauswahl zur Wahl 2017 könnte erweitert werden. Garantien für die demokratischen Parteien sind möglich. Dazu müsste die KP Chinas allerdings ihren politischen Monopolanspruch einschränken. Zumindest in Hongkong.
Am politischen Monopol der Partei zu kratzen ist schwer für Xi Jinping. Der chinesische Parteichef gilt als Hardliner. Aber er ist gleichzeitig die mächtigste Führungspersönlichkeit Chinas seit dem Reformer Deng Xiaoping. Die Option, für die sich Deng 1989 am Tiananmen-Platz entschied , den gesellschaftlichen Dissens mit einem einzigen blutigen Schlag zum Schweigen zu bringen, hat Nachfolger Xi nicht mehr.