Nur vorgezogene Neuwahlen können der Ukraine helfen

Die ukrainischen Proteste entwickeln sich nach zwei Monaten zum Aufstand. Regierungsgegner halten stundenlang das Energieministerium in Kiew besetzt. Manche haben sich rudimentär bewaffnet. In der westukrainischen Metropole Lemberg ist der Sitz der Regionalverwaltung in der Hand von Oppositionellen. Auch in zwei Dutzend anderen Städten haben Demonstranten die Kontrolle über Regierungsgebäude übernommen.

Die Radikalisierung ist eine Reaktion auf die Unnachgiebigkeit des Präsidenten. Viktor Janukowitsch macht  Scheinangebote an die Opposition, will aber seine eigene  Machtposition nicht aufgeben.    Reguläre Präsidentschaftswahlen gibt es erst  2015. Bis dann  will Janukowitsch  das Kräftemessen auf der Straße  für sich entschieden haben.  Aber die Krise ist inzwischen so tief, dass nur vorgezogene Neuwahlen einen Ausweg bieten würden.

In Kiew organisiert die Regierung Gegendemonstranten. Provokateure heizen die Stimmung an. Rivalisierenden Gruppen machen  Gefangene und nehmen Geiseln. Zwei regierungskritische Aktivisten wurden nach ihrer Entführung aus einem Spital ermordet.  Tausende nahmen in Kiew am  Trauerzug  für  den aus Weißrussland stammenden getöteten Oppositionsaktivisten Michail Schisnewski  teil.

Die Polarisierung  verändert den Charakter der Straßenproteste. Nach wie vor gibt es blaue EU-Fahnen auf den Barrikaden.  EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle, der  zu vermitteln versuchte, wurde auf dem besetzten Maidan bejubelt. Aber in den Straßenschlachten dominieren Ultranationalisten, die von der Europäischen Union nichts wissen wollen. „Europa  beizutreten, das wäre der Tod der christlichen Ukraine“, sagt ein Aktivist des sogenannten Rechten Sektors dem Korrespondenten des britischen Guardian. Der Mann prophezeit der Ukraine einen Guerillakrieg. Auf beiden Seiten gibt es Kräfte, die  auf  Gewalt setzen.

Im Eilverfahren hat die Regierung nach russischem Vorbild Gesetze durchgepeitscht, die eine massive Einschränkung der Organisationsfreiheit mit sich bringen. Regierungschef Asarow, der als Hardliner gilt, sagt, ein Putsch sei im Gange, gegen den sich die Regierung wehren muss. Die Opposition spricht von Diktaturgesetzen.

Es sind Katastrophenszenarien,  die einen scharfen Kontrast zur  fröhlichen Pro-Europabewegung Ende November bieten, als Präsident Janukowitsch auf Druck Putins ein Assoziierungsabkommen mit der EU verweigert hat. Beide Seiten haben bei diesem Machtkampf wesentliche Teile des Landes hinter sich.  Im mehrheitlich russisch sprechenden Osten und Süden verlangen  Lokalabgeordnete ein härteres Durchgreifen gegen die Demonstranten.  Im westukrainischen Lemberg stellen sich die Bürgermeister dagegen selbst an die Spitze der Bewegung. Umfragen besagen, dass sich im Westen 90 Prozent der Bevölkerung mit der Protestbewegung identifizieren. In der Ostukraine sympathisieren dagegen nur  13 Prozent mit den Demonstranten, obwohl  Armut, Korruption und Misswirtschaft im ganzen Land gleich drückend sind.

Die tiefen Gräben machen  nationale Willensbildung schwer. Aber die gesellschaftliche Vielfalt der Ukraine, mit ihren vielen unterschiedlichen Machtzentren, ist umgekehrt auch eine Chance. Keine  Gruppe, ob im Regierungslager oder in der Opposition, ist stark genug einen radikalen Machtwechsel durchzusetzen.  Präsident Janukowitsch mag insgeheim davon träumen, sein Land so autoritär regieren zu können, wie Diktator Lukaschenko im benachbarten Weißrussland. Aber eine einseitig auf  Russland orientierte diktatorische Staatsmacht würde die  Westukraine  niemals akzeptieren. Umgekehrt kann die prowestliche Opposition die  über tausend Fäden mit Russland verbundenen Landesteilen im Osten und Süden nicht ignorieren.

Die Forderung  der EU, dass die Ukraine für ein  Assoziierungsabkommen das Angebot Putins zur Aufnahme in seine Eurasische Union ausschlagen soll, war geopolitisch nicht durchdacht.   Die Europäer boten dem bankrotten Land Finanzhilfe über den Umweg des Internationalen Währungsfonds, die an einen schmerzlichen Modernisierungsschub gebunden wesen wäre. Putin winkte mit billigem Gas und  15 Milliarden Euro für einen politischen Einstieg in den  Einflussbereich Russlands auf dem Weg der Eurasischen Union.  Die Alternativen haben die inneren Gegensätze des Landes dramatisch verschärft.

Nur als Brückenland zwischen Russland und Europa wird die Ukraine  sich stabilisieren  können.    Auch wenn es in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung schwer vorstellbar ist: an  Stelle  einer Entscheidungsschlacht braucht das Land eine Kultur der Kompromisse. Weil der Streit um die Annäherung an die EU die Proteste ausgelöst hat, sind die Europäer   Partei. Ihre Vermittlungsversuche sollten sie trotzdem nicht aufgeben, auch um einer Radikalisierung der Opposition entgegen zu wirken. Angesichts der Gefahr einer Ausweitung der Massenproteste könnten vorgezogene Neuwahlen  unter international garantierten fairen Bedingungen  auch für das  Regierungslager zur  Option werden. Für eine Entwicklung in Richtung  Rechtsstaat und Demokratie werden mittelfristig auch die  russischsprachigen Landesteile zu gewinnen sein. Dagegen wäre ein  Stellvertreterkrieg des Westens mit Russland um Einfluss in der Ukraine ein  Weg ins Desaster.