Neue Welt für Europa

Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament beginnt ein neuer Zyklus in der europäischen Politik. Die Karten werden neu gemischt.  Rechte Nationalisten, die ursprünglich die Zerstörung der Europäischen Union propagiert haben, spüren Aufwind.   Die Rechtsrechten streben jetzt selbst entscheidende  Machtpositionen  an.

 Dem Green Deals, dem klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft, wollen die Rechtsrechten den Garaus machen. Die Unterstützung der Ukraine gegen Russland lehnen sie mehr oder weniger deutlich ab. Die Vorstellung, dass die Europäische Union ein Player in der Geopolitik des 21.Jahrhunders sein soll, ist ihnen ein Greul.

 Der bulgarisch-österreichische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der vor drastischen Vergleichen nicht zurückschreckt, beschreibt in der Neuen Züricher Zeitung die Lage in Europa als Vorkriegszeit. Am Horizont zeichne sich ein großer Krieg mit Russland ab. Der Gefahr zu begegnen ist das auf Kompromisse  am Verhandlungstisch in Friedenszeiten getrimmte Regelwerk der EU schlecht vorbereitet. Für die Europäer ist es ein Schock, dass es nach einem halben Jahrhundert Friede darum geht einen Krieg zu verhindern oder vorzubereiten.

  Krastevs Alarmruf ist berechtigt.  Russland setzt seine Aggression zur Niederwerfung der Ukraine mit einem Vormarsch gegen Charkiw fort.Der Kreml zielt wie am ersten Tag des umfassenden Krieges auf Kiew und die Kontrolle über das ganze Land. Wie sich Europa verhalten soll, wenn dem ukrainischen Militär die Kraft zur  Verteidigung ausgeht, bewegt Staatsführungen und Strategen. 

  Ein Sieg Russlands wäre nicht nur das Ende der Ukraine sondern eine existentielle Bedrohung für Europa. Notre Europe peut mourir, unser Europa kann sterben, warnt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in Dresden.

  Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos sagt voraus, dass es im Europaparlament bei einer Mehrheit von Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen bleiben wird, trotz Verlusten bei den Liberalen von Renew Europe. Insgesamt wird sich das Kräfteverhältnis  verändern. Die Parteien, die gegenwärtig in den beiden Rechtsaußenfraktionen Identität und Demokratie und der  Fraktion der Konservativen und Reformer organisiert sind, könnten über 20 Prozent der Stimmen bekommen. Das wäre mehr als je zuvor.

Bei den Gipfeln  des für viele grundsätzliche Fragen entscheidenden Europäischen Rates im bunten  Verhandlungssaal im Europagebäudes wird es in Zukunft so viele von Rechtsextremen getragene Regierungschefs geben, wie nie zuvor. Italien, die Niederlande, Ungarn, Finnland und Schweden stellen die rechtsrechte Kohorte, dazu kommt die Slowakei mit autoritären Linksnationalisten an der Regierung. Die Union muss zerstörerischen Kräften im Inneren entgegen treten und dem revanchistischen Kriegsherrn Putin Paroli bieten. Es ist ein neues Terrain für die Europäer.

 Was bleibt, wenn Amerika auslässt?

  In den  Anfängen der europäischen Integration liegt das Bemühen Geopolitik durch trockene Wirtschaftsdeals zu ersetzen. Die Montanunion 1951 sollte nach den Plänen von Robert Schuman und Jean Monnet für die Zukunft verhindern, dass Deutschland und Frankreich gegeneinander aufrüsten.  Kohle und Stahl, die Fundamente der Rüstungsindustrie, wurden von einer gemeinsamen supranationalen Behörde reguliert. Die USA waren im angehenden Kalten Krieg der schützende Pate für Europa. Diese Zeiten sind vorbei.

 Die Vereinigten Staaten schwächen  die Sicherheitsgarantien für Europa, wie bei der monatelangen Blockade der Waffenlieferungen für die Ukraine zu sehen war.

   Wir müssen überlegen, wie wir angesichts der Unsicherheiten in den USA zu europäischer Souveränität in der Sicherheitspolitik kommen, diagnostiziert Österreichs EU-Vordenker Franz Fischler.  Die USA wenden sich unabhängig vom Präsidenten immer mehr dem Pazifik zu.

  Franz Fischler, einst ÖVP-Agrarkommissar in der EU-Kommission, sieht  Megaaufgaben auf die EU zukommen. Wie der Krieg um die Ukraine beendet werden kann ist nur eine der Fragen.  Eine  EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist  ein Ziel für die nächsten zwanzig Jahre, sagt Fischler. Der Wiederaufbau wird zu finanzieren sein. Aber wie geht es mit der Erweiterung auf dem Westbalkan weiter? Fischler stellt Teilmitgliedschaften in den Raum, für die Rechte und Pflichten im Verhältnis zu Vollmitgliedern zu klären wären. Vor Vertragsveränderungen, die erforderlich wären, schrecken die Mitgliedsstaaten zurück. All dies unter den Vorzeichen eines  wahrscheinlichen Rechtsrucks auf europäischer Ebene.

Geopolitik in der Nachbarschaft

    Frankreichs Präsident Macron hält einen russischen Vorstoß gegen die Hauptstadt Kiew wie am 24.Februar 2022 für möglich. Die Franzosen könnten mit anderen im Notfall den Schutz der ukrainischen Hauptstadt gegen eine Bedrohung aus Belarus im Norden übernehmen, damit ukrainische Einheiten zur Verteidigung gegen einen russischen Vormarsch frei werden, so lauten die Überlegungen in Paris. Im Umkreis der NATO wird diskutiert den Luftschutz für die Westukraine durch die Stationierung von Luftabwehrstellungen im Grenzgebiet von NATO-Staaten zu verstärken. Beide Varianten würde über die bisherige Unterstützung der Ukraine bei ihrem Verteidigungskrieg weit hinausgehen. Mit dem Risiko russischer  Gegenaktionen.

  Gegenüber dem aggressiven Russland hat die Union trotz aller Interessensunterschiede gemeinsam Front gemacht.

 Im Gazakrieg sind die  27 dagegen gescheitert. Bei der Verurteilung des Massakers vom 7.Oktober und der grundsätzlichen Befürwortung eines Palästinensischen Staates sind die Europäer einig.  Für Deutschland und Österreich stand in den letzten Monaten die Solidarität mit Israel im Zentrum. Dagegen hat man in Westeuropa sehr rasch angeprangert, dass Israel aus der Selbstverteidigung einen Krieg gegen das palästinensische Volk in Gaza gemacht hat. In der Zivilgesellschaft des Westens wird der palästinensische Widerstand als antikoloniale Bewegung verstanden, während bei uns die Erinnerung an den Holocaust die Sicht auf den Nahen Osten prägt.Die Unterschiede in der eigenen Geschichte verhindern, dass sich die Europäer geschlossen für Gleichberechtigung von Israelis und Palästinensern im Nahen Osten einsetzen.

  Eine kriegerische Bedrohung von außen beschleunigt  politische Entwicklungen. Putins Russland will eine Schwächung der Union. Ein Zerfall wäre ihm wahrscheinlich am liebsten. Die Trumpisten in den USA stehen dem Vereinten Europa feindlich gegenüber.

 Die Widerstandskraft der Europäer ist durch den Druck von außen gewachsen. Die Vereinigten Staaten von Europa stehen nicht vor der Türe. Aber in einer von kriegerischen Rivalitäten geprägten Welt ist den Europäern bewusster geworden, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den demokratischen Revolutionen von 1989 geschaffene Zusammenhalt wert ist, verteidigt zu werden. 

 Der „beispiellose Brutalowahlkampf“ (Franz Fischler)  der FPÖ  

Die Wahlauseinandersetzung zum Europaparlament spiegelt die Umbruchsituation wieder, in der sich die Europäische Union befindet. Das Bewusstsein ist  vorhanden, dass unsere Zukunft von den Antworten auf globale Fragen abhängt. Aber in der Praxis handelt es sich um die Aneinanderreihung von 27 nationalen Wahlkämpfen.

 Einen Brutalowahlkampf, wie ihn die FPÖ bietet, hat es in der Form noch nie gegeben, diagnostiziert für Österreich Ex-Kommissar Franz Fischler (ÖVP). Die EU insgesamt nieder zu machen und als Trotteln darzustellen, inklusive Orban als Kommissionspräsident, das sei letztklassig. Fischler erinnert die Polarisierung an die Zeit vor dem EU-Beitrittsreferendum 1994. Jörg Haider hat damals total überzogen, mit Geschichten über EU-Blutschokolade und Läusen in der Joghurt. Das war  nicht glaubwürdig und es gab  die Gegenreaktion in der Öffentlichkeit, die zum überwältigen Sieg der EU-Befürworter geführt hat. Es wäre ein beruhigendes Ergebnis eines unerfreulichen Wahlkampfes.

   Die Wechselwirkung zwischen nationaler und europäischer Ebene bespielt aktuell Italiens  Giorgia Meloni. Die postfaschistische Regierungschefin tritt als Spitzenkandidatin ihrer Fratelli d‘Italia für die Europawahlen an und lässt sich landesweit plakatieren.   Italien verändert Europa, lautet ihr Slogan. Gemeint ist eine restriktive Migrationspolitik und die Aufweichung des Green Deal, mit dem die Wirtschaft klimafreundlich umgebaut werden soll.  Errungenschaften der liberalen Demokratie von der Frauenbefreiung bis zu den Rechten sexueller Minderheiten will sie zurückfahren. Gegen die Aufrüstung eines europäischen Pfeilers der NATO hat Meloni nichts einzuwenden. Ziel auf europäischer Ebene ist eine Koalition mit der nach rechts rückenden bürgerlichen Mitte in einer zweiten Amtszeit von Ursula Von der Leyen.

 Die  Ambitionen spalten das rechtsextreme Biotop im Europäischen Parlament. Melonis Fratelli d’Italia sind  gemeinsam mit den Rechtsnationalisten der polnischen PiS in der Fraktion der Konservativen und Reformer EKR organisiert. Zur Konkurrenzfraktion Identität und Demokratie gehören die Abgeordneten des Rassemblement National, dessen Chefin Marine Le Pen 2027 französische Präsidentin werden möchte. Dort geben rechtsextremen Schreier der Alternative für Deutschland, der FPÖ und der Lega von Matteo Salvini den Ton an.  Durch den Ausschuss der AfD hat Le Pen die Fraktion in die Luft gesprengt.

 Klar ist: von Frankreich und der französischen Verbindung zu Deutschland hängt das Überleben des Vereinten Europas Union ab.  Die Forderung nach einer Rückentwicklung der EU zu einer Freihandelszone und dem absoluten Primat der Nationalstaaten gefährdet die Errungenschaften der Integration.

 Europäische Resilienz in den Krisen

 In den letzten Jahren mag auf der Ebene der politischen Institutionen im Vereinigten Europa wenig vorangegangen sind. Aber real ist viel passiert. Deutlichste Beispiele sind die Beschaffung der Corona-Impfstoffe für die nationalen Gesundheitssysteme, von denen alle EU-Bürger profitierten, und die Milliardeninvestitionen für den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft  nach der Pandemie.

Sämtliche  Euro-Stabilitätsfonds zusammen belaufen sich  auf knapp 1500 Milliarden Euro. Für den Recovery Fonds zur  Wirtschaftsförderung nach der Pandemie nimmt Europa bis zu 750 Milliarden in die Hand. Sogar Munition und Waffen für den Verteidigungskrieg der Ukraine werden über Umwege aus europäischen Geldern bezahlt. Durch seine konstruktive Enthaltung ist auch Österreich beteiligt. Die Resilienz Europas hat sich in Krisensituationen als stärker erwiesen, als die  zentrifugalen Tendenzen.

  Vom Sozialen Europa ist in der Europapolitik weniger die Rede.  Zu unrecht findet Georg Fischer, langjähriger Sozialexperte in der Europäischen Kommission. Unter den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und Ursula von der Leyen und  vorangetrieben von Arbeits- und Sozialkommissar Nicolas Schmit ist in der EU-Sozialpolitik mehr weiter gegangen, als die Öffentlichkeit realisiert.

 Seit 2024 gilt die 2022 beschlossene neue Mindestlohnrichtlinie. Es gibt in der EU zwar keine unionsweite Mindestlöhne, wie in den USA. Dazu sind die Unterschiede  zu groß. Aber die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet ihre eigenen Mindestlöhne auf Referenzwerte wie zum Beispiel 50 Prozent des jeweiligen durchschnittlichen Bruttogehalts anzuheben. Wo es keine Mindestlöhne gibt, wie in Österreich, müssen Kollektivverträge für ausreichende Mindestlöhne sorgen. Alle Mitgliedsstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Löhne in Kollektivverträgen  geregelt sind, müssen Aktionspläne vorlegen um diesen Wert zu erreichen.  Die Pflicht zu Tarifverhandlungen freut die Gewerkschaften. Auch mit der Richtlinie zu den Rechten der Beschäftigten von Online Plattformen hat die EU Neuland betreten ebenso mit jener zur Transparenz der Löhne von Männern und Frauen auf der Ebene von Betrieben.

  In der EU liegt Sozialpolitik weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die EU-Sozialprogramme sind finanziell bescheiden.  Anders war das in der Covid-19 Krise. Die Europäer haben ein riesiges Finanzpaket aufgestellt, um europaweit Kurzarbeit zu finanzieren und Arbeitslosigkeit zu verhindern.  In der letzten Weltwirtschaftskrise konnten sich nur reiche Staaten  Kurzarbeit leisten,  sagt Sozialexperte Georg Fischer. Durch die 100 Milliarden Euro des SURE-Programms konnten auch finanzschwache  EU-Staaten ihre Arbeitnehmer absichern um Entlassungen zu vermeiden.  SURE steht  für European Institution for Temporary Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency. SURE ist ausgelaufen. Die letzten Zahlungen wurden 2023 getätigt.

 Georg Fischer erinnert an frühere Überlegungen in der EU-Kommission ein Europäisches Arbeitslosensystem  aufzubauen. Die 100 Milliarden für Kurzarbeit in der Pandemie könnten als Anlauf in die Richtung eines stärkeren sozialen Netzes auf europäischer Ebene genutzt werden. Die nächste EU-Kommission wird entscheiden müssen, ob die sozialen Komponenten der Covid 19-Notmaßnahmen weiter entwickelt werden.

  Der neue Zyklus der europäischen Politik steht unter dem Vorzeichen von Kriegsgefahr und der Abwehr nationalistischer Angriffe von Innen.  Bliebe Sozialpolitik auf der Strecke, würde man ein Einfallstor mehr für rechte Nationalisten schaffen, die stets bemüht sind mit Sozialleistungen die eigenen Bürger an sich zu binden.

Polens zweite demokratische Revolution

In Polen waren Zuwendungen an die Modernisierungsverlierer   bedeutende Vehikel, die es der rechtsnationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit PiS über Jahre ermöglicht haben den Staat in autoritäre Richtung umzubauen. Die Gesellschaft wurde ungebremst mit antieuropäischer Propaganda vergiftet. Seit dem Wahlsieg der von Donald Tusk geführten proeuropäische Koalition wird der Rechtsstaat wieder hergestellt. Polen erlebt  eine historische Gegenbewegung gegen den autoritär-nationalistischen Trend unserer Zeit.  Der Justiz ihre Unabhängigkeit zurück zu gegeben und den öffentlichen Rundfunk zu einem  Medium mit ausgewogener Berichterstattung zu machen stellt sich allerdings als schwierig heraus.   

  Das sogenannte Artikel – 7 Verfahren gegen Polen wegen Verletzung demokratischer Werte wird  eingestellt.  Polen kann auf die Freigabe weiterer Milliarden aus Brüssel hoffen. Die kann die Regierung in Warschau auch dringend brauchen. Für die Europawahlen liegen die Rechtspopulisten und die regierende Bürgerplattform laut Umfragen mit 32 Prozent Kopf an Kopf. Für die PiS ist das nach 44,6 Prozent 2019 ein Einbruch. Aber in Europa an erster Stelle zu landen  würde der Partei Jaroslav Kaczynskis einen Energieschub verleihen.

  Die Konflikte lassen leicht vergessen, wie spektakulär die Erfolge der Osterweiterung in Polen und anderen neuen Mitgliedstaaten sind. Die polnische Wirtschaft ist in den letzten 20 Jahren um 170 Prozent gewachsen, die Mindestlöhne haben sich verfünffacht, rechnet Korrespondent Jakub Iwaniuk in Le Monde vor.  Die 170 Milliarden Euro aus Brüssel waren ein entscheidender Faktor.    Polen ist heute die sechste Volkswirtschaft der Europäischen Union. Das Land verfügt über die stärkste konventionelle Armee Europas. Es ist ein Aufstieg, von dem der gesamte Kontinent profitiert.

 Nach dem Ende des Kommunismus erlebt Polen heute eine zweite demokratische Revolution. Was in Warschau passiert ist ein Zeichen, dass der Demokratie in der Europäischen Union die Kraft zu einem Comeback nicht ausgegangen ist. Es sind Signale, die wir für den neuen Zyklus in der europäischen Politik gut brauchen können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*