Benjamin Netanjahu ist einer der umstrittensten Regierungschefs der Welt. In Israel, seinem eigenen Land, fordern Hunderttausende seinen Rücktritt. Hinter vorgehaltener Hand sagen Militärs und Geheimdienstleute, dass er einen Waffenstillstandsdeal für Gaza sabotiert und die von Hamas gehaltenen Geiseln opfert, weil ihn nur ein langer Krieg an der Macht hält. Vor dem Internationalen Gerichtshof wurde gegen ihn ein Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen beantragt. Ein einzigartiger Vorgang für einen westlichen Regierungschef.
Trotz aller Vorwürfe spricht Benjamin Netanjahu diese Woche vor dem amerikanischen Kongress. Kein anderer Regierungschef bekommt in Washington DC so häufig den roten Teppich aufgerollt wie „Bibi“. Der Auftritt unterstreicht das strategische Bündnis zwischen der Supermacht Amerika und dem jüdischen Staat. Israel führt den Gazakrieg mit amerikanischer Munition und Waffen aus den USA. Unter Joe Biden haben die USA superschwere Bomben nicht so schnell geliefert wie sonst, weil die israelische Armee damit unzählige Frauen und Kinder tötet. Die Irritationen werden in der verbliebenen Amtszeit des US-Präsidenten nicht verschwinden. Aber letztlich können sich die Israelis auf die Solidarität Amerikas verlassen.
Palästinensern bietet das Engagement des Westens wenig. Die Appelle zur Einhaltung des Kriegsrechts aus Washington und Brüssel werden in Jerusalem zurückgewiesen. 2 Millionen Palästinenser sind aus ihren Wohnungen vertrieben, die Versorgung mit Lebensmitteln wird blockiert, Schulen und Spitäler sind zerstört. Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte praktizieren seit Monaten eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung von Gaza. Die Unterstützung des Westens für Israel führt an amerikanischen Universitäten und in Europa seit Monaten zu Protesten.
Der blinde Fleck der Palästinasolidarität ist die Verharmlosung der Hamas-Verbrechen. Bei den ersten Nachrichten über das antijüdische Massaker vom 7.Oktober gab es Jubelszenen. Sie wurden breit verurteilt, aber sie wirken nach. In propalästinensischen Kreisen sind die Behauptungen verbreitet, dass Zivilisten nicht das Ziel der Al Aksa Brigaden der Hamas waren und dass die Zerstörungen vom Gegenschlag der Streitkräfte herrühren.
Ein neuer Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch widerlegt diese Apologie. Auf 236 Seiten beschreibt die prominente amerikanische NGO Kriegsverbrechen und Verletzungen des humanitären Menschenrechts durch palästinensische Militante nach dem Ausbruch aus Gaza. Geiseln zu nehmen war nach Human Rights Watch von Anfang an Teil der zentralen Planung des Angriffs. Zivilisten wurden in großer Zahl durch Palästinenser ermordet, die klar als Mitglieder militärischer Organisationen erkennbar waren.
Tote durch Friendly Fire bei den Kämpfen hat es tatsächlich gegeben. Hamas behauptet jedoch, dass ein großer Teil der Getöteten das Opfer schwerer Waffen wurden, über die die Palästinenser gar nicht verfügen. Dafür gibt es keine Belege, schreibt Human Rights Watch. Auch andere Palästinenserorganisationen waren beteiligt, wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas PFLP und die Demokratische Volksfront DFLP, die aus der palästinensischen Linken kommen, sowie der Islamische Dschihad.
Die Verbrechen des 7.Oktober rechtfertigen nicht, was das israelische Militär seither anrichtet. Aber sie dürfen nicht beschönigt werden.
Israel bekommt zur gleichen Zeit vom Internationalen Gerichtshof die Rechnung für 57 Jahre Besatzung in den Palästinensergebieten serviert. Dass das Regime in der Westbank und Gaza völkerrechtswidrig ist, wurde Israel schon lange vorgehalten. Keine Regierung in Jerusalem hat die Mahnungen ernst genommen. Benjamin Netanjahu antwortet den internationalen Richtern mit einem zionistisch-nationalistischen Reflex: das Jüdische Volk sei nicht Besatzer in seinem eigenen Land. Zur gleichen Zeit lehnt das israelische Parlament einen Palästinenserstaat ab.
Die verheerende Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts droht sich auszuweiten. Der Süden des Libanon und der Norden Israels sind bereits Kriegsgebiet. Eine Drone der Huthis aus dem 2000 Kilometer entfernten Jemen erreicht Tel Aviv. Worauf die israelische Luftwaffe Ziele im Jemen angreift, was das Prestige der schiitischen Huthis fördert. Das Krebsgeschwür, das solche Metastasen auslöst, ist die fehlende Perspektive für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Palästinensern und Israels.
Zu einer Deeskalation könnte nur massiver Druck von außen führen. Die jüdischen Friedensgruppen, die in Washington DC gegen Benjamin Netanjahu protestieren, stellen sich dieser Verantwortung. Sie beweisen, dass es möglich ist ein Ende des israelischen Vernichtungsfeldzuges gegen Gaza zu fordern ohne die palästinensischen Verbrechen des 7.Oktober zu beschönigen.
ZUSATZINFORMATIONEN
Human Rights Watch (HRW) zu Gaza
“I Can’t Erase All the Blood from My Mind” ist der Titel des Berichts zum 7.Oktober. 815 der 1195 Opfer des Überfalls waren Zivilisten. Zum Supernova Muscal festival, bei dem 364 Menschen getötet wurden, hat die Menschenrechtsorganisation Augenzeugenberichte und Videos der Angreifer ausgewertet. In einem offenen Brief an die EU-Außenminister kritisiert Human Rights Watch die Weigerung der EU gegen Kriegsverbrechen Israels in Gaza bei fast 40 000 Toten vorzugehen. Nachzulesen im Internet unter: hrw.org