Der Ukrainekrieg ist in eine neue Phase getreten. Ukrainische Streitkräfte haben erstmals russisches Staatsgebiet überschritten. Die Kleinstadt Sudscha, Militäranlagen und 75 Dörfer in der westrussischen Region Kursk wurden erobert. Das russische Militär ist überrumpelt.
Für das Riesenreich handelt es sich um mikroskopisch kleine territoriale Verluste. Aber feindliche Truppen hat es in der Russischen Föderation seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben. Mit Besetzung des russischen Gebiets hofft Präsident Wolodymyr Selenskij ein Faustpfand für einen akzeptablen Waffenstillstand in die Hand zu bekommen.
Der Kreml spielt das Debakel herunter. Die Blamage für Putin ist riesig. Der Fall der westrussischen Grenzregion zeigt, dass der Präsident seinem Land keine Sicherheit bieten kann. Die Führung in Kiew erlebt dagegen einen positiven Schub für die Moral der eigenen Bevölkerung. Der ist auch dringend nötig. In den letzten Monaten hat sich angesichts der vielen Toten und der großen Zerstörungen Enttäuschung und Verzweiflung ausgebreitet. Die Zustimmung zu Präsident Selenskij ist abgestürzt.
Wie sich der Vorstoß militärisch auswirken wird ist unklar. Der österreichische Militäranalyst Franz-Stefan Gady befürchtet, dass den Ukrainern die Kräfte, die sich auf russischem Gebiet einsetzen, an entscheidenden Abschnitten der Front fehlen. Fast täglich verlieren sie im Donbas die Kontrolle über Dörfer und Siedlungen an die Russen.
Auffällig ist, wie wenig Aufhebens der Westen vom Einsatz westlicher Waffen macht. Schützenpanzer aus den USA und Deutschland sind jetzt auf russischen Staatsgebiet im Einsatz. Sowohl Washington als auch Berlin haben erklärt, dass der ukrainische Vorstoß Teil des Verteidigungskrieges der Ukraine gegen die russische Aggression ist.
Deutschland tut sich mit Verständnis für die Erfordernisse eines Krieges gegen Russland traditionell schwer. Aus historischen Gründen und weil man lange an eine Verständigung mit Putin geglaubt hat. Die Illusion wurde durch den umfassenden Angriff vom 22.Februar 2022 zerstört. Gesprengt wurde ein halbes Jahr später die Unterwasser Gasleitung Nord Stream, die Deutschland und Russland über Jahrzehnte hätte verbinden sollen. Laut einem spektakulären Bericht des Wall Street Journal waren höchste Regierungskreise in Kiew verantwortlich.
Die Nord Stream Pipeline am Meeresboden sollten Deutschland mit russischem Gas versorgen, ohne dass die Lieferung am Landweg durch die Ukraine führt. Ein Vorteil für Russland und eine Schwächung der Ukraine, wie Kritiker immer schon moniert haben. Errichtet wurde das gigantische russisch-deutsche Infrastrukturprojekt vom russischen Energieriesen Gazprom unter massiver Beteiligung deutscher und auch österreichischer Investoren.
Die Recherchen des Wall Street Journal sowie deutscher Medien lassen keinen Zweifel: ein sechsköpfiges Team von militärischen und zivilen Tiefseetauchern aus der Ukraine besorgte den Sprengstoff und führte den abenteuerlichen Anschlag in 80 Meter Tiefe durch. Das Attentat von einem kleinen Segelboot namens Andromeda war ein voller Erfolg. Nord Stream wird kaum je wieder zu reaktivieren sein. Deutsche Medien sprechen von einem der größten Sabotageakte der Geschichte.
Präsident Selenskij hatte laut dem Wall Street Journal anfangs grünes Licht gegeben, der damalige Generalstabschef Waleri Saluschnyi zog die Fäden. Kiew dementiert. Aber ein deutscher Haftbefehl gegen den ukrainischen Leiter des Kommandos unterstützt die Darstellung der Journalisten.
Nord Stream war ein über Jahrzehnte ausgelegtes Vorhaben. Die Ukraine wird von Deutschland mit vielen Milliarden Euro, mit Waffen und Know How unterstützt. Dass das angegriffene Land, dem anfangs zögernd aber schließlich doch militärisch geholfen wird, dem reichen Partner Deutschland ein derart großes Geschäft zerstört, ist für die deutsche Öffentlichkeit schwer zu verkraften. Für die Linksnationalistin Sarah Wagenknecht und die rechtsextreme AfD, die gegen die Ukrainehilfe Stimmung machen, ist die Enthüllung in den laufenden ostdeutschen Wahlkämpfen ein Geschenk.
Berlin war offenbar seit langem informiert. Aus Rücksicht auf die Solidarität mit den Ukrainern überlies die deutsche Regierung die Causa jedoch der Justiz.
Zukünftige Waffenstillstandsverhandlungen mit Putins Russland, die auf eine Kapitulation hinauslaufen würden, wären eine Katastrophe. Für ihren Verteidigungskrieg braucht die Ukraine unverändert militärische und politische Unterstützung aus Europa und den USA. Trotzdem soll die Ukrainehilfe in dem von der deutschen Ampelkoalition für 2025 geplanten Budget halbiert werden. Ein alarmierendes Zeichen, wie gefährlich brüchig die Solidarität mit dem angegriffenen Staat geworden ist.
ZUSATZINFO
Sündenfall Nord Stream
2005 gaben Gerhard Schröder und Vladimir Putin 2005 den Startschuss, um um Deutschland und Russland enger miteinander zu verbinden. Die Kosten: va.10 Milliarden Euro. Die österreichische OMV ist mit 729 Millionen beteiligt. Zerstört wurden 2022 drei der vier Pipelines von Nord Stream 1 und 2