Im Finale um Griechenland hat sich ein fataler Irrtum breitgemacht. Grexit, der Austritt des Landes aus Euroland, sei gar nicht so schlimm, behaupten Politiker und Publizisten. Europas Finanzsystem sei stark genug, um den Abgang der unverlässlichen Kantonisten zu verkraften. Die zu erwartenden verheerenden Folgen für das Land, Bankenkrach, Chaos und Inflation, könnten einen heilsamen Schock auslösen, etwa in Spanien, wo die linksalternative Partei Podemos dem separatistischen Weg von Syriza folgen will, so lauten die Argumente.
Wer so denkt, unterschätzt die Dynamik eines beginnenden Zerfalls. Eine Währung ist niemals nur Zahlungsmittel. Die D-Mark stand für den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Weltwährung Dollar ist das Fundament der imperialen Macht Amerikas. Der Euro war der wichtigste Schritt zu einem Vereinigten Europa, der seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gesetzt wurde. Die Europäer waren stolz darauf, dass sie gelernt haben, Interessensgegensätze durch Verhandlungen zu lösen. Wenn sie sich als unfähig erweisen, mit dem kleinen Griechenland zu einem Kompromiss zu kommen, ist das gesamte Modell der Entscheidungsfindung in der Union in Frage gestellt. Die Rückabwicklung der europäischen Integration stünde im Raum.
Alexis Tsipras und Finanzminister Varoufakis sind linksalternative Nationalisten, denen die europäische Etikette fremd ist. Sie reiten die Welle der Empörung der Bürger über den wirtschaftlichen Absturz. Den haben die eigenen Eliten allerdings noch mehr verursacht, als die europäischen Geldgeber. Wie die offensive Linie in Nordeuropa ankommt, ist ihnen herzlich egal. Dazu kommt das Bündnis von Syriza mit der rechtspopulistischen Partei der Unabhängigen Griechen von Verteidigungsminister Kammenos. Tsipras schützt seine Regierung vor Protesten vom rechten Rand. Das überhöhte Militärbudget will er aus Rücksicht auf die Koalition aber nicht antasten, wie die EU-Kommission anregt.
Bei grenzüberschreitenden Disputen versuchen Politiker in der EU eine Grenze nicht zu überschreiten, die beim Gegenüber nationalistische Gegenreaktionen auslösen. Diese Zurückhaltung ist zwischen Deutschland und Griechenland verschwunden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Bild-Zeitung führen eine Kampagne gegen die Linksregierung in Athen. Syriza-Politiker replizieren mit der grotesken Behauptung die Unterwerfung Griechenlands sei das Ziel der Geldgeber. In der selbstgerechten Empörung geht verloren, dass sich die Forderungen der Gläubiger aus den gemeinsam beschlossenen EU-Regeln ableiten.
Syriza ist in Frontstellung zum Establishment groß geworden. Zwischen europäischen Christdemokraten und griechischen Linkspolitikern mit kommunistischen Wurzeln klaffen ideologische Welten. Dementsprechend groß ist das Unverständnis auf beiden Seiten. Jean-Claude Juncker, der auf seine emotionale Verbindung zu Südeuropa pocht, ist persönlich beleidigt, weil Tsipras in Griechenland sein eigenes politisches Spiel treibt, statt die Juncker’schen Versionen der Kompromisspapiere zu präsentieren.
Die wichtigere Frage ist: warum kann die Europäische Kommission in Griechenland eigentlich nicht selbst für ihre Linie kämpfen? Warum bietet nicht bei jeder Brandrede des griechischen Regierungschefs im Parlament in Athen ein EU-Kommissar Paroli? Warum steht Angela Merkel als deutscher Kanzlerin im Deutschen Bundestag nicht ein Vertreter der EU-Regierung zur Seite, wenn sie die Hardliner in den eigenen Reihen in die Schranken weist? Oder auch: warum wird eine für ganz Europa so wichtige Entscheidung in Parlamenten der Nationalstaaten getroffen, und nicht im Europäischen Parlament?
Die politischen Defizite der Europäischen Integration wurden bisher durch die Flexibilität der traditionellen Regierungsparteien ausgeglichen. Mit dem Aufstieg linker und rechter Populisten geht dieses Modell zu Ende. Die währungspolitischen Auswirkungen eines Austritts Griechenlands aus dem Euro könnte die Europäische Zentralbank mildern. Politisch wäre eine Scheidung ein Desaster. Die Rückkehr zu nationalen Währungen erschiene plötzlich wieder möglich. Grexit wird die Renationalisierung Europas beschleunigen. Darauf hat die extreme Rechte nur gewartet.
Griechenland ist ökonomisch in der schwächeren Position, hat aber eine politische Führung, die die Konfrontation mit dem Establishment nicht scheint. Das war der Auftrag der Wähler. Mit populistischen Regierungen von links und rechts wird die EU noch öfters zu tun haben. Flexibilität gegenüber Syriza wäre ein Zeichen der Stärke und eines zukunftsträchtigen europäischen Selbstbewusstseins.
Giorgios Papandreou wollte vor Jahren das griechische Volk in einem Referendum über den Euro und die geplanten Reformschritte befragen. Die Option steht auch Alexis Tsipras offen, wenn die Europäer ihm den erforderlichen Spielraum geben.
Zu Recht erinnert der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Wolfram Elsner daran, dass die Geldgeber kein Problem haben, der Ukraine große Geldsummen zukommen zu lassen. Warum sollte das nicht auch gegenüber den renitenten Griechen möglich sein?