Indien: Wirtschaftswachstum mindert kaum die Armut, MiJ, 20.6.2015

Jahr für Jahr ist Indien in den letzten zwei Jahrzehnten   von der wirtschaftlichen Entwicklung  China in den Schatten gestellt worden. Es war eine ernüchternde Erfahrung für das Riesenland mit 1,2 Milliarden Einwohnern  zu sehen, wie kommunistischer Nachbar wirtschaftlich davonzieht.  Seit einem Jahr regiert in New Delhi unter dem konservativen Ministerpräsidenten Narenda Modi eine neue wirtschaftsfreundliche Regierung. Sie will massiv Wachstum beschleunigen. Die Erwartung war da, dass das Land am Ganges zu einer  Aufholjagd gegenüber China ansetzt.  Aber  nach einem Jahr Regierungszeit sind manche Hoffnungen verflogen, berichtet aus New Delhi Asien-Korrespondent Raimund Löw.

  Die Zahlen zeigen nach oben. Mit 7,5 Prozent wächst  Indien inzwischen rascher als China.   Aber am ersten Jahrestag des nationalistischen Wahlsieges von Narenda Modi, dem neuen starken Mann Indiens , ist die anfängliche Euphorie  der Wirtschaft verhaltener Vorsicht gewichen, argumentiert in der indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai der   Börsenexperte Rameh Damani.

CUT A  

    Narenda Modi, der neue Premierminister ist als großer Reformer gekommen, vergleichbar mit Marget Thatcher in Großbritannien oder Deng Xiaoping in China. Modi versprach ökonomisches Wachstum. Aber er hat einen ziemlich langsamen   Start,  der Reformschwung, den die Wirtschaft  erhofft hat, ist ausgeblieben. Zu einem Big Bang ist es unter Premierminister Modi nicht gekommen

  Narenda Modi ist der erste Regierungschef seit langem, der über eine absolute Mehrheit im indischen Unterhaus verfügt. Aber im einflussreichen Oberhaus hat die Opposition um die Kongresspartei das Sagen. Rahul  Gandhi, der  linksliberale Oppositionsführer aus der  führenden Politdynastie des Landes , versucht  die wirtschaftsliberalen Reformpläne  zu blockieren.  Ein Gesetz, das es Wirtschaftsunternehmen  leichter machen soll, Grund und Boden zu erwerben, sitzt fest. Die Lage vieler hoch verschuldeter armer Bauern ist so schlecht, dass eine Epidemie von Bauern-Selbstmorden das Land erfasst hat.

  Adi Godrej war lange Chef des indischen Unternehmerverbandes. Er ist Seniorchef eines riesigen Industriekonglomerats Indiens und ein überzeugter Befürworter der wirtschaftsliberalen Regierungspolitik.

CUT  B – GODREJ MUMBAI ..319_01

Wir erwarten für dieses Jahr ein Wachstum zwischen 8 und achteinhalb Prozent. Die Wirtschaft öffnet sich , es gibt Auslandsinvestitionen im Verteidigungsbereich,  bei den Versicherungen, in der Bauwirtschaft.  Die bürokratische Last für die Wirtschaft geht zurück. Aber wir müssen weiter gehen, Indien hat das Potential  in den nächsten zehn Jahren eine zweistellige Wachstumsrate zu erreichen.

   Ein kräftiges Wirtschaftswachstum gibt es  in Indien seit mehreren Jahren.   Computerfirmen beliefern von der südindischen Stadt Bangalore aus  auch Kunden Indien,  in den USA und in Europa.    Die  Wanderbewegung aus den Dörfern lässt die indischen Städte explodieren.  Eine  Folge ist, ganz so wie in China,  der SMOG, der über den Städten liegt. New Delhi, die Hauptstadt, hat inzwischen eine ungesündere  Luft als Peking.

  Im Institute for Technology in New Delhi diagnostiziert der Umweltexperte Dinesh Mohan eine Verschlechterung der Luftqualität   in allen Städten des Landes,

CUT  C – 4  DELHI 1: DINESH MOHAN ..09

  Es ist ein normaler Prozess, dass bei gestiegener wirtschaftlicher Aktivität auch mehr gefährliche Partikel in die Luft gelangen.

  Die Regierungen stehen unter großem Druck der Öffentlichkeit, aber sie wollen Investitionen aus Europa, aus Japan und aus den USA, analysiert Dinesh Mohan vom Institute for Technology in New Delhi. 

CUT D – DINESH

Kein Investor will strengere Umweltregeln.  Eine Balance zwischen den Interessen der Wirtschaft und den Umweltinteressen der Menschen ist noch nicht  gefunden worden.

CUT  E – 5: ATMO INDIA GATE: …0057, ..0058

  Beim abendlichen Spaziergang in der großen Parkanlage im Zentrum New Delhis rund um India Gate, dem wichtigsten  Wahrzeichen der Stadt,  sind die Sorgen über die schlechte Luft nicht zu überhören.

CUT F –  6: DELHI 1 …0056 – ITV Familie

Klar, die Umweltverschmutzung ist  schlimm, sagt Poonam Batra, viele Leute können nicht gut atmen,  Astma nimmt zu.  Man fühlt sich schlecht. Aber die Kinder können auch nicht immer zu Hause sitzen, sie müssen zumindest am Abend heraus aus den vier Wänden.

TEXT RL:

Das Pahapur Businesscenter, ein Bürozentrum in New Delhi zieht die Konsequenzen und entwickelt aus der schlechten Luft eine Geschäftsidee.  Filter und Klimaanlage, obligatorisch bei Temperaturen von  über 40 Grad, sind mit einem  Gewächshaus verbunden, das  einen Teil der Schadstoffe absorbiert.

CUT G

  Delhi ist Stadt mit der schlechtesten Luft der Welt, aber wenn Sie hier, in unserem Bürohaus einen tiefen Luftzug tun, dann haben Sie   das Gefühl im Dschungel zu sein, weil die Luft durch unsere Pflanzen im Gewächshaus gereinigt wird,  sagt Direktor  Barun Aggarwal.

  Durch den dank der vielen Pflanzen erhöhten Sauerstoffgehalt der  Luft sei  die Produktivität der Mitarbeiter im Businesscenter Pahapur um 20 Prozent gestiegen.

CUT H – AGGARWAL

  Unternehmergeist fördern,  das ist das erklärte Ziel der Regierung Modi Mit dem Versprechen auf ein besseres und wohlhabenderes Indien war die nationalistische Partei BJP vor einem Jahr auch in den armen Bevölkerungsschichten erfolgreich.

CUT I – ATMO

  Im Zentrum der Finanzmetropole Mumbai liegt Dharavi. Mit einer Million Einwohner ist Dharavi der größte Slum Asiens.  Auch nach einem Jahr sind noch zahlreiche  Plakate  der neuen Regierungspartei BJP zu sehen.

Der Schneider Nazeer Ahmed beschäftigt seinen Sohn und zwei weitere Mitarbeiter. Sie nähen Kinderhosen für den Straßenverkauf.

CUT J –  9: NAZEER AHMED MUMBAI ..0386_01

  Er lebt seit 25 Jahre hier, erzählt uns Nazeer Ahmed. Das Leben ist ok in Dharavi , nicht sehr bequem, aber auch nicht schlecht. Für Narenda Modi hat er gestimmt, weil der ein gutes Leben versprochen hat. Aber geändert hat sich in Dharavi bisher nichts.

  Nachbar Mobad Rafique Sari bestätigt:

CUT K – 10: MOBAD RAFIQUE, MUMBAI 0403_01

Nein, es ist alles beim Alten geblieben. Sie haben gesagt, sie werden Straßen bauen, aber das ist nicht passiert. Immer wieder wird das Wasser knapp. Schon die  Kongresspartei hat uns Wohnungen versprochen, 35 Quadratmeter  sollten sie groß sein, nichts ist geschehen.

  Im Slum Dharavi fehlt eine ordentliche Kanalisation , und immer wieder geht der Strom aus. Aber weil die Mieten niedrig sind wohnen hier viele Menschen mit Jobs in der Stadt. Geschäftslokale und kleine Sweatshops, mit Arbeitern, die dicht gedrängt nebeneinander produzieren, sind keine Seltenheit. 

Kommt es  zu einem dauerhaften wirtschaftlichen Aufstieg Indiens, dann werden aus den Slums  findige  Geschäftsleute und junge Arbeiter den Anschluss finden, so lautet das Argument der Regierung.  Bisher ist dieser Entwicklungssprung  ausgeblieben. 

  In wenig anderen Ländern Asiens ist die grausame Armut der großen Mehrheit der Bevölkerung so deutlich sichtbar, wie in Indien.

 

  Die Massenarmut  ist das allergrößte Problem für die Politiker, sagt auch der Börsenexperte Rameh Damani im Finanzzentrum von Mumbai, wenige 100 Meter vom Slum Dharavi entfernt.

CUT L

  Das Versprechen  der Regierung Modi war, dass in den nächsten 5 bis 10 Jahren 250 bis 300 Millionen aus der Unterschicht in die Mittelklasse aufsteigen werden. Die Mittelschicht, das sind bisher vielleicht 50 Millionen in Indien.  Wenn das passiert, wird das eine der wichtigsten friedlichen Revolutionen weltweit . 300 Millionen Inder in der Mittelklasse,  die werden alle Urlaube haben wollen, Autos, eine besseres Erziehungssystem und sie werden einen besser funktionieren Staat verlangen.  300 Millionen neu in der Mittelschicht, das ist  die Bevölkerung der USA oder halb Europas. Wenn es dazu kommt, wird die  Veränderung in der gesamten globalisierten Welt spürbar sein.

  Die Regierung Modi in New Delhi braucht für dieses ehrgeizige Ziel nach dem ersten Regierungsjahr allerdings dringend einen neuen Anlauf.