Europa hat mit Philipp Rösler, dem deutschen Vizekanzler, ein hochrangiges Regierungsmitglied mit Wurzeln in Vietnam. Rotterdam wird erfolgreich von Ahmed Aboutaleb geführt, dem aus Marokko eingewanderten ersten islamischen Bürgermeister der Niederlande. Österreich kann immerhin auf Maria Vassilakou als Immigrantin in der Spitzenpolitik vorweisen. Ein Präsident wie Barak Obama, der Sohn eines afrikanischen Einwanderers, ist in Europa aber nach wie vor schwer vorstellbar. Amerika hat dank der Bürgerrechtsbewegung und vieler Jahre der gezielten Förderung von Minderheiten zu einem besseren Umgang mit der multikulturellen Realität gefunden, als der alte Kontinent. Barack Obama durchbrach die gläserne Decke für Minderheiten der ganzen Welt bereits vor vier Jahren. Aber 2008 war in den USA ein Ausnahmesituation. Die verheerenden Bush-Jahre hatten zu einem übermächtigen Wunsch nach Veränderung geführt. Erste die Wiederwahl Barack Obamas verfestigt den Durchbruch zur Normalität. Rein weiße Männerklubs an der Spitze ethnisch durchmischter Staaten sind endgültig anachronistisch.
Während die Wirtschaftskrise in Europa rechte und linke Regierungschefs hinwegfegt, haben dem Präsidenten klare Mehrheiten bei Frauen, nationalen Minderheiten, der Jugend und Einwanderern die Stange gehalten. Eine Wählerkoalition, die sich vor allem auf weiße Männer stützt, wie das Mitt Romney versuchte, schafft selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten den Sprung zur Mehrheit nicht. Präsidentschaftswahlkämpfe in den USA sind großes Theater. Die langen Vorwahlen, die Fernsehduelle und der Kampf um die Swing States, das alles erscheint typisch amerikanisch. In Wirklichkeit ist Amerika am 6.November aber europäischer geworden. Das wichtigste Wahlkampfthema Obamas war Gerechtigkeit. Mit seinem Plädoyer für einen Staat, der den Schwachen hilft, klang er wie ein klassischer Sozialdemokrat.
Während sich die Republikaner in einem christlich-fundamentalistischen Wirrwarr über Abtreibung, „legitime “ Vergewaltigungen und Gottes Wille verhedderten, punktete Obama mit seinem Ja zur Schwulenhochzeit. Überwältigende 62 Prozent der 18 bis 29jährigen weiss er dabei auf seiner Seite. Die Tea Party, die Monatelange mit Anti-Staatsparolen die öffentliche Debatte dominierte, ist verglüht. Den Sprung von der Wutpartei in eine mehrheitsfähige Wählerkoalition haben die rechten Fundis nicht geschafft. Ganz ähnlich wie die Rechtspopulisten von Gert Wilders in den Niederlanden bis zu den Wahren Finnen in Europa auch.
Doppelt verloren hat die Wall Street. Über die viele hundert Millionen schweren vom Höchstgericht erstmals unbegrenzt zugelassenen Political Action Committees, hat die Finanzwelt massiv an der Seite des Republikaners in den Wahlkampf eingegriffen. Die Ausgaben für Romney müssen jetzt als Fehlspekulation verbucht werden. Die von den Bankern betriebene Aushöhlung des sogenannten Dodd-Frank Acts zur Regulierung der Märkte ist abgebogen. Auch die von der Pharmaindustrie bekämpfte Gesundheitsreform, durch die Millionen Amerikaner erstmals versichert sind, wird bleiben. Barack Obama kann sich für seine Pläne zur Steuererhöhung für die Rechen jetzt auf ein Mandat des Volkes berufen. Aber die Trendwende geht tiefer: mit dem Erfolg von Proposition 30 in Kalifornien haben die Wähler erstmals in einem Referendum grünes Licht für Steuererhöhungen gegeben. Die Einnahmen werden nach dem Willen von Gouverneur Jerry Brown direkt in Schulen und Universitäten fließen, die unter Arnold Schwarzenegger ausgeblutet wurden. Erstmals seit der konservativen Revolution Ronald Reagans erkennen die Wähler an, dass staatliche Bildungsaufgaben auch finanziert werden müssen. Genau so wie in Europa wollen die Bürger in Amerika einen Staat, der nicht nur für Armee und Polizei sorgt, sondern auch für Krankenhäuser, Pensionen, Schulen und Universitäten.
Die befreiende Richtungsentscheidung einer Präsidentenwahl fehlt in der EU. Nicht einmal den Budgetstreit, der in Brüssel genauso heftig tobt wie in Washington DC, kann man ernst nehmen, macht das EU-Budget doch nur 1 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Daniel Cohn-Bendit, der grüne Vordenker, wünscht sich eine Amerikanisierung des EU-Budgets zur Bündelung der europäischen Politik. Bei der Wahl Roosevelts 1932 betrug das US-Bundesbudget 1 Prozent des BIP, 1945 waren es 7 Prozent, heute sind es 23 Prozent. Wenn alles gut geht könnte Europa im nächsten Jahrzehnt auf 5 Prozent kommen, so der unverbesserliche Optimist. Behält Cohn-Bendit recht, dann müssen wohl auch europäische Präsidentschaftswahlen folgen. Die Fiskalklippe, vor der die Obama-Administration steht, wenn es bis zum 31.12.2012 keinen Budgetkompromiss zwischen Präsident und Kongress gibt, hat in Europa vorläufig noch viele Namen: Griechenland, Irland, Portugal, Spanien.