Der internationale Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu empört Israel, freut die Palästinenser und entzweit die Europäer. Wegen des palästinensischen Angriffs vom 7.Oktober verlangt der Gerichtshof auch die Festnahme eines verantwortlichen Hamas-Führers, der möglicherweise jedoch bereits getötet wurde. Politisch sind das Weichenstellungen, kein Schuldspruch im juristischen Sinn. In 123 Staaten droht dem israelischen Regierungschef bei Einreise die Verhaftung.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag beschuldigt den israelischen Ministerpräsidenten schwerer Kriegsverbrechen. Unter anderem, weil seine Streitkräfte Zivilisten gezielt aushungern, ihnen Wasser und Medikamente vorenthalten. Die grausame Kriegsführung der Israelis hat in Gaza Schulen, Spitäler, Moscheen, Wohnhäuser und Flüchtlingszelte zerstört. Unter den mehr als 40 000 Getöteten sind zehntausende Frauen und Kinder.
Der Haftbefehl aus Den Haag bedeutet, dass die Straflosigkeit der Politiker in Israel, das zu den westlichen Demokratie gehört, ihre Grenzen hat. Das Massaker in Gaza ist durch zahlreiche Untersuchungen der Vereinten Nationalen dokumentiert. Die Entscheidung gegen Netanjahu und Gallant, den früheren Verteidigungsminister, ist ein Lebenszeichen für ein Völkerrecht, das auf keinem Auge blind ist. Bisher waren vor allem gestürzte Diktatoren das Ziel der internationalen Gerichtsbarkeit. 2024 gab es wegen der Deportation ukrainischer Kinder einen Haftbefehl gegen Vladimir Putin, den die USA und die Europäer damals begrüßt haben.
In Israel herrscht Unverständnis. Das Büro des Regierungschefs unterstellt den Richtern Antisemitismus und stellt Vergleiche mit dem Fall Dreyfus 1894 an. Alfred Dreyfus war ein französischer General, der nach einer antisemitischen Kampagne als Spion verurteilt wurde und erst nach vom Schriftsteller Emile Zola gestarteten Protesten rehabilitiert wurde. Der Vergleich zeigt, wie der Kampf gegen Antisemitismus von der israelischen Führung instrumentalisiert wird, um Kritik an Gewalt gegenüber den Palästinenser die Berechtigung zu nehmen.
Jüdische Stimmen, die eine differenzierte Sicht vertreten und den Gazakrieg ablehnen, sind im Kampf gegen Antisemitismus glaubwürdiger, als offizielle Vertreter der Jüdischen Gemeinden, die israelische Regierungspropaganda übernehmen.
US-Präsident Joe Biden pocht bei seiner Ablehnung der Gerichtsentscheidungen in Den Haag auf das Recht Israels zur Selbstverteidigung. Allerdings hat sich der Charakter des Krieges in Gaza geändert. Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant gibt zu, dass es in Gaza keine relevanten militärischen Ziele mehr gibt. Die Befreiung der Geiseln, so sie noch am Leben sind, kann nur durch Verhandlungen erreicht werden.
Welche Kriegsziele die Regierung in Jerusalem in Gaza tatsächlich verfolgt ist unklar. Rechtsextreme Minister wollen den Norden auf Dauer besetzen und jüdische Siedlungen errichten. Schon jetzt sind 10 Prozent der zwei Millionen Bewohner mit Hilfe teurer Schlepper geflohen. Regierungsmitglieder in Jerusalem betreiben gezielt israelische Expansion auf Kosten der Palästinenser.
Klar, Kriege schaffen mehr Realitäten als Richtersprüche. Solange Netanjahu auf die Unterstützung der USA zählen kann, wird er ungeachtet des Völkerrechts am Vorgehen der Israelischen Streitkräfte nichts ändern. Donald Trump, der nächste US-Präsident, lehnt internationale Gerichtsbarkeit grundsätzlich ab. Kriegsrecht und Menschenrechte sind zivilisatorische Errungenschaften. Sie sind es wert verteidigt zu werden, selbst wenn sie kurzfristig nicht durchsetzbar sind und die Supermacht Amerika sich widersetzt.
wenn sie kurzfristig nicht durchsetzbar sind.
Die militärische Überlegenheit Israels gegenüber seinen Feinden war selten so klar, wie jetzt. Gleichzeitig ist die internationale Isolation des Jüdischen Staates größer als je zuvor. Wenn der Schock über das Massaker des 7.Oktober nachlässt, wird in Israel eine Nachdenkphase über Alternativen zum Kriegsführen einsetzen. Der Haftbefehl gegen Netanjahu zeigt, dass es für Israel nicht mehr möglich ist seine Palästinenserpolitik fortzusetzen und sich gleichzeitig auf die Menschenrechte westlicher Demokratien zu berufen.
Österreich ging zur Entscheidung der Richter in Den Haag auf Distanz. Außenminister Schallenberg nennt den Haftbefehl „unverständlich und nicht nachvollziehbar.“ Ähnlich äußern sich Ungarn und Tschechien. Immerhin stellt die Regierung klar, dass Österreich an die Entscheidungen aus Den Haag gebunden ist.
Österreich gehört zu den wenigen Ländern, die in der UNO und in der EU Kritik an der israelischen Kriegsführung ablehnen. In Wien haben Koalitionsverhandlung für eine neue Bundesregierung begonnen. Der Haftbefehl aus Den Haag könnte der Anlass für eine Korrektur sein, damit sich Österreich für ein Ende dieses furchtbaren Krieges engagiert und mehr als bisher eine gerechte Lösung für Israelis und Palästinenser unterstützt.
WELTGERICHTE IN DEN HAAG
Der Internationale Strafgerichtshof urteilt über die Verantwortung einzelner Politiker an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen. 193 Staaten akzeptieren die Rechtsprechung. Getrennt davon wirkt der ebenfalls in Den Haag ansässige Internationale Gerichtshof als Organ der UNO, das Konflikte zwischen Staaten verhandelt. Südafrikas brachte hier die Völkermordklage gegen Israel vor. Beiden Gerichtshöfe beeinflussen die Weltöffentlichkeit, sie verfügen über keine eigenen Machtmittel.