In der ganzen Sowjetunion wurden 1989 die Fernsehbilder von der Hinrichtung des rumänischen Diktatorenpaares Ceausescu wie in einer Bildschleife wieder und wieder gezeigt. Die blutigen Szenen aus Bukarest waren eine Warnung Gorbatschows an die eigene Partei, was passiert, wenn man den demokratischen Umbau blockiert. In den blutigen Kämpfen verfeindeter Fraktionen von Temesvar und Bukarest entschied sich das Schicksal der demokratischen Revolution in Osteuropa. Nirgendwo sonst verlief das Ende des Kommunismus so gewaltsam, wie in dem über Jahrzehnten von der Securitate, dem allgegenwärtigen Geheimdienst, terrorisierten Land.
Fast 30 Jahre später gehen in Rumänien Hunderttausende gegen die Regierung auf die Straße. Es ist die größte Massenmobilisierung seit den Tagen der Revolution. Die Karikaturisten zeichnen den Chef der machtbewussten Sozialdemokraten, Liviu Dragnea, mit den Gesichtszügen Ceausescus. Aber es ist ein radikal anders Land, das sich jetzt erhebt: demokratisch, friedlich und selbstbewusst. Immer wieder schwenken die Demonstranten blaue EU-Fahnen. Ausgelöst wurde die Volksbewegung durch ein Dekret, mit dem die Regierung die Antikorruptionsgesetze lockern wollte. Bestechung von unter 45 000 Euro sollte als Bagatelldelikt straffrei werden.
Das umstrittene Gesetz wurde zurückgezogen. Zwei Minister mussten gehen. Aber nach wie vor fürchten NGOs und Oppositionsparteien, dass die skandalträchtige Amnestie in anderer Form wieder auftauchen könnte. Die rumänischen Sozialdemokraten haben Parlamentswahlen erst vor drei Monaten mit großem Vorsprung gewonnen. In Scharen waren die angewiderten Bürger dem Urnengang fern geblieben. Weil Parteichef Dragnea wegen Wahlmanipulation rechtskräftig verurteilt ist, darf der Wahlsieger die Regierungsgeschäfte nicht übernehmen. Die Änderung des Strafgesetzes, von der die Regierung sagt, dass sie nur die überbelegten Gefängnisse entlasten soll, würde die Hürde beseitigen.
Seit dem EU-Beitritt 2007 steht Rumänien unter spezieller Aufsicht Brüssels. Regelmäßige Berichte der Kommission begleiten den Antikorruptionskampf. Die politischen Eliten hassen die kritische Benotung. Für das Land selbst sind sie ein Segen. Dank des europäischen Engagements ist im zweitärmsten Mitgliedsstaat der Union eine unabhängige Justiz entstanden, die aktiv den Kampf gegen Bestechung führt. Vor der Chefin der Antikorruptionsbehörde zittern Politiker aller Parteien und selbst die Oligarchen.
Die rumänischen Sozialdemokaten haben in Seilschaften des alten Regimes ihre Wurzeln, wie in anderen Ländern Osteuropas auch. Immer wieder stellten sie nach dem Ende der Tyrannei Ceausescus die Regierung. Die gnadenlosen Machtkämpfe von Bukarest reichten bis nach Brüssel. Als 2012 der damalige konservative Präsident Basescu getrennt vom sozialdemokratischen Regierungschef Ponta zum EU-Gipfel anreiste, mussten die Protokollexperten der EU schlichten. Dem Konservativen Basescu wurde sein Wirtschaftsliberalismus zum Verhängnis. Der sozialdemokratische Macher Ponta scheiterte nach Verfahren wegen Geldwäsche und Urkundenfälschung.
Seit Jahren verfolgen die rumänischen Sozialdemokraten einen Kurs des autoritären Nationalismus, ähnlich wie in der Slowakei SP-Regierungschef Robert Fico. Der konservative Präsident Klaus Iohannis, der die Antikorruptionsproteste unterstützt, gilt als Vertreter fremder Mächte, weil er aus der deutschsprachigen Minderheit kommt. Hinter kritischen NGOs, die bei den jungen Mittelschichten populär sind, vermutet man gerne George Soros, der als Banker, Ungar und Jude ein beliebtes Ziel von Nationalisten jeder Couleur ist.
Auf den ersten Blick sind das chaotische Widersprüche eines armen Verwandten in Europa. Aber Scheinanstellungen bringen in Frankreich gerade den konservativen Präsidentschaftskandidaten Fillon ins Strudeln. Italiens Berlusconi und Österreichs Grasser beschäftigen seit Jahren die Justiz. Die Rumänen vergleichen ihre Heimat in zunehmendem Maße mit Westeuropa. Viele reisen und arbeiten in anderen EU-Staaten und erleben die Unterschiede im Umgang mit dem allgegenwärtigen Sumpf zu Hause. Die Generation Europa, oft gut ausgebildet und weltoffen, geht jetzt auf die Straße.
Die Osteuropaexperten Judy Dempsey beschreibt ein Land, in dem seit dem EU-Beitritt die Zivilgesellschaft blüht. Die Zeiten von Aussichtslosigkeit und Angst sind vorbei. In einer Phase, in der in Polen und Ungarn der Rechtsstaat bröckelt, wehren sich die Rumänen gegen den Weg zurück in eine Vergangenheit, in der die herrschende Kaste über dem Gesetz stand, analysiert Dempsey. Europa sollte applaudieren.