Abbas, der Holocaust und die Palästinenser – Falter Maily #878

Palästinenserpräsident Abbas hat mit seinem unsäglichen Sager die Israelis hätten seit 1947 50 Holocausts an den Palästinensern angerichtet, für sein Volk mehr Schaden angerichtet, als er sich das wahrscheinlich selbst vorgestellt hat. Der deutsche Bundeskanzler ist brüskiert, weil er die Bemerkung im ersten Moment unwidersprochen stehen ließ, und muss sich  im Nachgang umso heftiger von palästinensischen Anliegen distanzieren.

 Dabei ist das Selbstbild der Palästinenser, das sie angesichts von Flucht und Vertreibung und des seit mehr als einem halben Jahrhundert andauernden Besatzungsregimes, viel mehr Opfer der Geschichte seien als die Juden, nicht neu. Für die Palästinenser spielt die Nazi-Vergangenheit in Europa angesichts der täglichen Repression, die sie erleben, keine Rolle. Ihre Erfahrung ist, dass Israel den Holocaust immer wieder einsetzt, um die Besatzung zu legitimieren.

Ausgerechnet in den Tagen, in denen in Deutschland die Empörung über die Abbas-Aussagen groß ist, zerstört Israel wichtige Teile der palästinensischen Zivilgesellschaft. Sechs prominente Menschenrechtsorganisationen, die wiederholt sowohl die israelischen Besatzer als auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) kritisiert hatten, werden  geschlossen. Angeblich wegen Terrorismus. Der Vorwurf wurde von der Europäische Union geprüft und zurückgewiesen.

Der polnisch-jüdische marxistische Historiker Isaac Deutscher hat den Zusammenhang zwischen israelisch-palästinensischem Konflikt und der Shoa mit einer Allegorie zu erklären versucht. Aus einem brennenden Haus springt  ein Mann aus dem Fenster um sich zu retten, prallt dabei auf einen völlig unbeteiligten Passanten, macht ihn zum Krüppel und zerstört sein  Leben.  Das brennende Haus ist Europa, der springende Mensch steht für die Überlebenden des Judenmordes, der unbeteiligte Leidtragende steht für die Palästinenser. Die Allegorie gilt auch noch Jahrzehnte später.

 Die Empörung über die Relativierung des Holocaust durch Mahmoud Abbas lässt vergessen, wie verheerend die gegenwärtige Realität der  Besatzung ist, mit zwei Rechtssystemen für Herrscher und Beherrschte. Der Gerettete in Deutschers Bild fürchtet die Rache des Verletzten und schlägt ihn, quält ihn, wo immer sie aufeinander treffen. Tiefe Feindschaft ist die Folge.

  Die Suche nach einem Kompromiss der beiden Völker, Israelis und Palästinenser, die um die gleiche Heimat kämpfen, hat zur Idee der Zweistaatenlösung geführt, die von der internationalen Gemeinschaft offiziell noch immer vertreten wird. Real hat sich die Weltpolitik inklusive vieler arabischer Staaten mit der israelischen Herrschaft über Millionen mehr oder weniger rechtloser arabischer Untertanen abgefunden.

Beim jüngsten Luftangriff, den Israel gegen Gaza geführt hat, sind 49 Menschen getötet worden, ein großer Teil der Opfer waren kleine Kinder. Die Darstellung aus Jerusalem, dass  die Palästinenser an den vielen getöteten Kindern selbst schuld sind, weil ihre Raketen irrtümlich explodiert sind, hat sich nach Recherchen der Tageszeitung Haaretz bei fünf Kleinkindern, die sich auf einen Friedhof geflüchtet hatten, als  falsch herausgestellt. Israel argumentiert, es war einen Präventivkrieg, um Attacken der Organisation Islamischer Staat zu verhindern.

 Eine logische Folge der aktuellen Perspektivlosigkeit ist die Frage, ob der israelische Staat ein neuartiges Apartheidsystem im Nahen Osten errichtet. Abbas hat in Berlin auch diese These vertreten und wurde von Olaf Scholz scharf kritisiert. Jüdische Organisationen sprechen von Antisemitismus, wenn man Israel Apartheid vorwirft.

 Aber so einfach ist die Sache nicht.  Israel ist seit 55 Jahren Besatzungsmacht mit der Kontrolle über den gesamten Raum zwischen der Küste des Mittelmeers und dem Jordan, in dem grob geschätzt sieben Millionen israelischer Juden und sieben Millionen palästinensischer Araber leben. Die militärische Übermacht Israel verfestigt ungerechte Verhältnisse.

 Die Diagnose vom Apartheidsystem kommt von der Menschenrechtsorganisation B’Tselem in Israel, von Amnesty International und Human Rights Watch. Es sind keine leichtfertigen Analysen. 

Das B’Tselem position paper, nachzulesen in Internet, trägt den Titel: B’Tselem position paper: „A regime of Jewish supremacy from the Jordan River to the Mediterranean Sea: This is apartheid“, January 2021 (btselem.org).Human Rights Watch kommt zu ähnlichen Schlüssen.   A Threshold Crossed: Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution | HRW  In Europa hat vor allem das Dokument von Amnesty International vom Frühjahr 2022 Staub aufgewirbelt.  Israel’s apartheid against Palestinians: Cruel system of domination and crime against humanity – Amnesty International

Die Kritik an Amnesty fasst die Presseagentur Mena Watch zusammen. ( Massive Kritik an neuem Israel-Bericht von Amnesty (mena-watch.com)

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch polemisierte heftig und verglich den Vorwurf mit den mittelalterlichen Lügen über Juden als Brunnenvergifter.

Gegen den Apartheid-Vergleich wendet der Schriftsteller und scharfzüngige politische Beobachter Doron Rabinovici ein, dass nicht Rassismus, sondern ein Nationalitätenkonflikt die Triebkraft der Auseinandersetzung ist. Es stimmt, in der israelischen Regierungskoalition ist eine islamistische arabische Partei vertreten. Aber an dem von den Menschenrechtsorganisationen akribisch aufgelisteten System der Diskriminierung der palästinensischen Volksgruppe ändert die Motivlage wenig. Der reflexartige Vorwurf des Antisemitismus, wenn die schlimmen Folgen der Okkupation aufgezeigt werden, schadet sowohl Israel als auch den Palästinensern.