Wie ein homophobes Gesetz in Ungarn Europa durcheinanderwirbelt

  Ungarns Premier Viktor Orban hat beim EU-Gipfel letzter Woche eine Diskussion provoziert,  ob sein Land überhaupt noch zur Europäischen Union passt. Auslöser  ist ein in Budapest von der Regierungspartei durchgepeitschtes homophobes Gesetz. Der niederländische Premier Mark Rutte, ein Liberaler, empfahl den Ungarn den Austritt. In einer Erklärung, der sich nach einigem Zögern  auch Österreichs Sebastian Kurz angeschlossen hat,  warnen 17 Regierungschefs vor einer Bedrohung der Grundrechte, wenn  sexuelle Orientierung zu Diskriminierung führen kann.  

 Nie zuvor hat sich so deutlich gezeigt, wie selbstverständlich die Akzeptanz der sexuellen Vielfalt   inzwischen geworden ist. Die meisten Menschen finden unterschiedliche Lebensweisen normal und wollen diese Rechte auch gesichert sehen. Es ist eine dramatische Entwicklung in Richtung Toleranz, wie ein Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit zeigt.

  Als die Alliierten der Naziherrschaft in Europa 1945 ein Ende bereiteten und  die Überlebende der  Konzentrationslagern freikamen, waren Träger des rosa Dreiecks, des Kennzeichens der Nazis für Homosexuelle, die Ausnahme. Ein Teil der im Dritten Reich nach Paragraf 175  wegen gleichgeschlechtlichen Sex  verurteilten Männer mussten auch nach der Befreiung zurück ins Gefängnis. Der Paragraf selbst ist in der Bundesrepublik Deutschland erst 1994 vollständig gelöscht worden.   Österreich hat nach der Entkriminalisierung unter Bruno Kreisky  die Überreste seines  Homosexuellenparagrafen 2002 gestrichen, nicht das Parlament, der  Verfassungsgerichtshof traf die Entscheidung.  2021 gehört der Respekt für Menschen jeder sexuellen Orientierung  zu den Grundwerten der  Union.    

   Der Kulturkampf gegen repressive sexuelle Vorschriften ist in Westeuropa weitgehend gewonnen. Das  Kürzel LGBTQ für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Queer, das Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Englischen eingeführt haben,  kommt inzwischen auch den EU-Chefs selbstverständlich über die Lippen.  Die Regenbogenfahne ist zum  Symbol der vielfältigen Lebensfreude  geworden, wie sich bei der Fußball-Europameisterschaft gezeigt hat. Das Unverständnis war groß, als der Europäische Fußballverband es beim Europameisterschaftsspiel Deutschland-Ungarn untersagte in München das ganze Stadion in Regenbogenfarben hüllen. Der Kapitän der deutschen Mannschaft Manuel Neuer betrat trotzdem unbekümmert mit seinem Regenbogenarmband das Feld.  Sportler, die sich politisch outen, zeigen, in welche Richtung die Gesellschaft geht.

  Victor Orban hatte auf den Besuch des Matches Ungarn gegen Deutschland in München verzichtet. Er verbrachte den Abend bei einem Dinner mit der Chefin der rechtsextremen Fratelli d’Italia Georgia Meloni in Brüssel. Einen reaktionären Backclash gegen Schwulenrechte gibt es in Westeuropa genauso wie im Osten. Aber die Vorurteile sind in ehemaligen Ostblockstaaten deutlich weiter verbreitet.

  Orban instrumentalisiert die  Ressentiments gegen Schwule  für seinen Machterhalt. Seine Regierung präsentiert das umstrittene Gesetz als Schutz vor Pädophilie und als Verteidigung  traditioneller Familien. Es soll verboten sein gleichgeschlechtliche Beziehungen für Kinder sichtbar in der Öffentlichkeit  als normal darzustellen. Laut Meinungsumfragen befürwortet in Ungarn allerdings nur  eine knappe Mehrheit der Bevölkerung die geplante Teilzensur.

  Ein Ausschluss eines Mitgliedsstaates aus der EU ist vertraglich nicht vorgesehen. Daher musste der Niederländer Mark Rutte den Ungarn bei der heftigen Debatte in Brüssel letzte Woche  den Austritt nahelegen. Die Europäische Kommission überlegt eine Ausweitung des Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn.  Justizkommissar Didier Reynders will gegen das homophobe Gesetz wegen Verletzung der Binnenmarktregeln im audiovisuellen Bereich vorzugehen, die keine  Beschränkungen im Handel von Gütern und Dienstleistungen erlauben.

  Bei der Abwehr von  Orbans Vorstoß   können juristische Maßnahmen nur Begleitmusik sein.  Die Staats- und Regierungschefs müssten systematisch gegen die illiberale Offensive in den Ring steigen. Warum fährt Mark Rutte, der niederländische Premier, eigentlich nicht nach Budapest um dort den liberalen Parteifreunden  zu helfen? Österreichs Kanzler Sebastian Kurz wird  noch nicht als Feindfigur gesehen. Warum organisiert der  ÖVP-Chef kein Meeting im Nachbarland, um den Bürgern seine Position gegen die Diskriminierung von Schwulen zu erklären? Solange Ungarn, Polen und andere Staaten mit autoritären Tendenzen Teil der politischen Vielfalt Europas sind, ist die liberale Demokratie auch in Osteuropa noch nicht verloren. Die Verteidiger der vielgepriesenen europäischen  Grundwerte von Toleranz und Antidiskriminierung sollten den Kampf ernsthaft führen, bevor es zu spät ist.

ZUSATZTEXT

 „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ (Artikel 2 des EU-Vertrages) – eine Grundrechteklage  gegen Ungarn und Polen läuft,  das Verfahren steckt im Rat der Mitgliedsstaaten.

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