Afghanistan: ein Debakel für den Westen, eine Katastrophe für das Land. Fragen und Notizen

  In Afghanistan geht die Zeit der westlichen Militärpräsenz zu Ende. Bis 11. September wollen die USA die letzten verbleibenden Soldaten abziehen. Es bleiben nur ein paar hundert Militärangehörige zum Schutz der US-Botschaft in Kabul. Aus allen Teilen des Landes wird ein Vormarsch der der islamistischen Taliban gemeldet. Die Vereinten Nationen berichten, dass Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten eingesetzt haben, weil viele Menschen einen offenen Bürgerkrieg befürchten.

Was da gerade vor den Augen der Welt in Afghanistan abläuft, kann man das anderes bewerten, als eine schwere Niederlage der USA und des Westens insgesamt? Es haben ja neben amerikanischen Soldaten ja auch Soldaten europäischer NATO-Staaten in Afghanistan gekämpft, auch österreichische Bundesheersoldaten waren im Einsatz.

Es ist ein Debakel für den Westen, was in Afghanistan jetzt passiert und es ist  eine Katastrophe für die Bevölkerung. Die westlichen Streitkräfte sind ja in den letzten 20 Jahren präsent gewesen. Da hat es zwar immer wieder Terroranschläge gegeben und es ist in einigen Provinzen ist gekämpft worden. Aber insgesamt hat es wichtige Verbesserungen gegeben. Vor allem, was die  Situation der Frauen betrifft. Es sind Mädchenschulen gebaut worden. Afghanische Frauen sind Abgeordnete, Ärztinnen, Journalistinnen, vor allem in den Städten. Das war alles früher unmöglich.

Diese Errungenschaften sind in Gefahr, wenn es zu einem Comeback der Taliban kommt. Und in Kabul herrscht zur Zeit Endzeitstimmung.  

 Die offizielle afghanische Armee hat viele Waffen erhalten von den Amerikaner, die Westmächte haben viel Geld in die Ausbildung gesteckt. Ob sie aber  die Kraft hat sich gegen eine Machtübernahme durch die Taliban erfolgreich zur Wehr zu setzen ist fraglich. Der prowestliche Präsident Ashraf Ghani sagt auf jeden Fall, dass er nicht aufgeben will. Die großen Städte sind unter Kontrolle der Regierung. Aber die Taliban sind im Vormarsch.

Was ist der entscheidende Grund für diesen riskanten Rückzug der USA? Ist dieser Abzug mit der seinerzeitigen  Niederlage im Vietnamkrieg zu vergleichen?

Demütigende Bilder wie der Abflug des letzten US-Helikopters von der amerikanischen Botschaft in Saigon 1975 sind Amerika bisher erspart geblieben. Die Konsequenzen sind auch nicht so weitreichend, weil mit der Niederlage in  Vietnam für die USA ganz Indochina verloren war. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die mit der Situation heute nicht zu vergleichen ist. Die unmittelbaren Auswirkungen des US-Abzuges auf die Nachbarstaaten werden begrenzt sein. Ein Einschnitt ist der Rückzug trotzdem.

Die Dimensionen der amerikanischen Militärpräsenz in den letzten zwei Jahrzehnten waren schon gigantisch. Es hat über längere Zeit mehr als 100 000 amerikanische Soldaten gegeben in Afghanistan. Mit unzähligen Luftangriffen von Drohnen oder Kampfflugzeugen gegen Kommandos der Taliban oder anderer Terrororganisationen. Gekostet hat das hunderte Milliarden Dollar. Aber dieser  riesige Militäreinsatz hat den Vormarsch der Taliban 20 Jahre nach ihrer Vertreibung von der Macht nicht verhindert. Das  ist ein Schlag für die Glaubwürdigkeit Amerikas.

 Aber die USA haben  kein großes strategisches Interess an Afghanistan. Es gibt keine lebenswichtigen Handelsrouten, die durch das Land führen, keine Bodenschätze wie Erdöl  oder andere wirtschaftlich wichtigen Güter.

Washington will jetzt nur mehr eines: man will sicher gehen, dass von afghanischem Boden keine Angriffe gegen Amerika gestartet werden, wie das vor 2001 der Fall war, als Al Kaida seine Basen dort gehabt hat. Das haben die Taliban in mühsamen Verhandlungen auch hoch und heilig versprochen, dass sie solche globale Terrororganisationen in dem von ihnen kontrollierten Gebiet nicht tolerieren werden.

In den USA ist in der Bevölkerung die Kriegsmüdigkeit groß. Den Rückzug versprochen hat bereits Donald Trump, das war ein durchaus populärer Schritt. An dieser Entscheidung das früheren Präsidenten hält Joe Biden fest.

Österreich diskutiert die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen, deren Asylstatus nicht anerkannt wurde oder die kriminell  geworden sind. Wie ist gegenwärtig die Flüchtlingssituation in Afghanistan?

Es hat in den letzten Wochen einen deutlichen Anstieg der Fluchtbewegung aus dem Land in die Nachbarstaaten gegeben. Das ist eine Trendwende gegenüber früher. Nach  dem Sturz der Taliban vor 20 Jahren gab es viele Heimkehrer. Die Menschen sind aus den Flüchtlingslagern in den Nachbarstaaten Pakistan, dem Iran, auch aus der Türkei, zurück gekommen, weil man gehofft hat, es wird zu einer  Stabilisierung kommen.

 Jetzt ist es umgekehrt. Es wollen immer mehr Menschen weg, weil sie Angst vor einem neuen Bürgerkrieg haben. In einer Provinz sind tausende Soldaten geflüchtet, über die Grenze nach Tadschikistan, weil sie den Taliban nicht standhalten konnten.

Typisch ist die Situation der lokalen Mitarbeiter, die für die  westlichen Streitkräfte als Übersetzer, Fahrer oder Köche gearbeitet haben. Die USA sagen, sie wollen diese Leute nicht im Stich lassen. Die ehemaligen lokalen Mitarbeiter der NATO und der USA sollen  außer Landes gebracht werden, weil das Pentagon die  Gefahren für diese Personen und ihre Familien als zu groß einschätzt.  

Es wäre absurd in einer solche Situation  Afghanistan als sicheres Land anzusehen. Die Abschiebungen von abgelehnten Asylwerbern  aus Europa in ein Land, das vor einem Bürgerkrieg steht,  sind sehr umstritten und  problematisch.  Die europäischen Innenministerien, die Abschiebungen durchführen, argumentieren, dass es in Afghanistan  auch Gebiete gibt,  in denen kein Bürgerkrieg herrscht. Das stimmt natürlich. Aber gerade jetzt verändert sich die Situation  nahezu täglich. Es gibt verheerende Terroranschläge in Städten, die lange als sicher galten. Wie lange Abschiebungen überhaupt noch rechtlich gedeckt durchgeführt werden können, ist fraglich.

Was kann bei diesen Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban denn herauskommen? Das amerikanische Pentagon warnt ja vor der Gefahr, dass die Regierung in Kabul innerhalb von 6 Monaten von den Aufständischen überrannt werden könnte. Welches Interesse sollten die Taliban unter solchen Umständen an einem Kompromiss haben?

 Die Aufständischen sind in der Offensive. Aber sie können nicht ganz sicher sein, dass es für sie einen Durchmarsch zur totalen Macht geben wird. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt lokale Stammesführer der verschiedenen ethnischen Gruppen, die einen Weg zu einem vom Mehrheitsvolk der Paschtunen beherrschten Gottesstaat wie früher nicht akzeptieren würden. Es sind auch die Amerikaner militärisch nicht vollständig verschwunden. Wenn es zu einem offenen Bürgerkrieg kommt, könnten die USA  versuchen die Streitkräfte der Regierung mit Luftangriffen zu unterstützen.

  Bei den Verhandlungen zwischen Regierung in Kabul und den Taliban geht es  darum herauszufinden, ob eine Teilung der Macht denkbar ist, bei der beide Seiten gewisse Teile des Landes kontrollieren und dafür in anderen Landesteilen die zweite Geige spielen. Die Taliban sagen, sie wollen einen islamischen Gottesstaat nach ihren ultrakonservativen Vorstellungen, aber das müsse nicht unbedingt ein Zurück zur Zeit vor 2001 sein. Die Regierung in Kabul verlangt, dass es weiter Wahlen gibt, mit unterschiedlichen Parteien und unterschiedlichen Kandidaten. Von Wahlen wollen die Taliban nichts  wissen, weil sie fürchten müssen, schlecht abzuschneiden.

Es sind fast unvereinbare Positionen, daher sind die Verhandlungen bisher auch ohne Ergebnis geblieben.

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