Vor den Europawahlen 2019, 22.5.2019

Der Wahlkampf zu den Europawahlen 2019 zeugt von der Zerreißprobe, in der sich die Union befindet, zeigt aber gleichzeitig auch, wie weit die politische Integration sich entwickelt hat.

Sogar die austrittswillige britische Regierung hält sich an die in den EU-Verträgen festgelegte Regel. Das Vereinigte Königreich organisiert Wahlen, so wie die anderen 27 Mitgliedsstaaten der Union auch. Der Umstand, dass ein Staat, dessen Regierung den Brexit betreibt, Europaabgeordnete wählen lasst,  ist nur auf den ersten Blick grotesk. Keine nationale Regierung kann europäischen Bürgern das Recht entziehen Vertreter in die multinationale Parlamentsvertretung nach Strassburg zu entsenden.

Europawahlen bestanden bisher zumeist aus einer Aneinanderreihung nationaler Wahlgänge, in denen europäische Fragen  eine untergeordnete Rolle spielten. Diesmal hat der Vormarsch der Nationalisten in allen Mitgliedsstaaten die Zukunft der Union ins Zentrum der Wahlauseinandersetzung gestellt. Die Parteien der extremen Rechten haben ihr destruktives Europaprogramm gemildert. Marine Le Pen, Matteo Salvini und Heinz-Christian Strache sind von der Idee eines Euro-Austritts oder der Trennung eines Euro-Nord von einem Euro-Süd  abgegangen. Sie behaupten, dass ein Europa der Vaterländer eine Alternative zur bestehenden Architektur der EU ist.

In mehreren EU-Staaten haben die traditionellen bürgerlichen Parteien der Europäischen Volkspartei die Anti-Brüssel-Rhetorik der extremen Rechten übernommen.  In Frankreich klingt der Parteichef der Republikaner, immerhin die Partei von Sarkozy und Chirac,  Francois-Xavier Bellamy fast so nationalistisch wie Le Pen. Italiens Silvio Berlusconi, von dem sich manche eine bürgerliche Alternative zum rechtsrechten Salvini erhofft hatten, passt sich zunehmend der antideutschen Demagogie des Lega-Chefs an. Weil die römische Koalition zwischen Lega und der linkspopulistischen Fünfsternebewegung nach den Europawahlen wegen der erwarteten Verluste  der Fünfsterne platzen könnte, strebt der 82-jährige Langzeitpremier eine Rechtskoalition mit Salvini an. Die unerwarteten Vorstöße von Sebastian Kurz gegen einen angeblichen Brüsseler „Regierungswahn“ aus den letzten Tagen zeigen, wie tief  eu-feindliche Slogans bis in die politische Mitte ausstrahlen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass am 26.Mai rechtsextreme Parteien in den drei größten Staaten der EU an der ersten Stelle landen. In Italien die Lega Salvinis, in Frankreich das das Rassemblement National Le Pens und in Großbritannien die Pro-Brexit-Partei des Nigel Farage. Eine Mehrheit für Rechtsaußen ist ausgeschlossen. Selbst eine gemeinsame Fraktion ist unwahrscheinlich. In der Budgetpolitik klaffen die Gegensätze zwischen Befürwortern und Gegnern der Austerität. Die Russlandpolitik spaltet das Rechte Lager. Aber ein Wahlerfolg der Rechtsextremen würde bestätigen, dass die Welle des autoritären Nationalismus, die von Donald Trump in den USA bis nach Europa reicht,  ist noch nicht zu Ende ist.

Die internationale Aufmerksamkeit für den Zerfall der Regierungskoalition in Wien ist eine Folge der allgemeinen politischen Unsicherheit in Europa. In der New York Times beschreibt Berlin Korrespondentin Katrin Bennhold Türkisblau in Österreich als Modell für eine schleichende Machtergreifung autoritärer Nationalisten in westlichen Demokratien. Sebastian Kurz steht für eine Öffnung der bürgerlichen Mitte zum nationalistischen Lager. CDU-Politiker, die nach einer Alternative zum proeuropäischen Pragmatismus Angela Merkels suchen, sahen im jungen österreichischen Kanzler eine Symbolfigur. Der Kollaps der Wiener Koalition ist ein Dämpfer für das Lager der Rechtsverbinder.

Auffällig sind die starken regionalen Unterschiede bei den politischen Trends. Die Sozialdemokraten stehen europaweit Verluste bevor. In Frankreich droht der traditionsreichen Sozialistischen Partei, die noch vor drei Jahren den Präsidenten gestellt hat, ein Absturz unter 5 Prozent (??). Die traditionsreiche SPD kommt in Deutschland aus der Defensive nicht heraus. Nur auf der Iberischen Halbinsel, in Spanien und Portugal, sowie bei den skandinavischen Nachbarn Schweden und Dänemark hält die demokratische Linke die Stellung. Regional erleben die Grünen einen Höhenflug: die Demoskopen sehen die

Grünen in Deutschland deutlich vor der SPD auf Platz zwei. In Belgien finden gleichzeitig mit den Europawahlen nationale Parlamentswahlen statt. Die Medien sprechen von einem grünen Tsunami, weil die Ökopartei in einigen Landesteilen Chancen auf Platz eins hat.

Für die Machtverteilung in der EU sind die politische Kräfteverhältnisse bei den Regierungschefs genauso wichtig, wie im Europaparlament. Der Ministerrat ist die Länderkammer der EU. Neun der 28 Regierungschefs gehören der Europäischen Volkspartei an, acht sind Liberale und fünf Sozialdemokraten. Dabei sind unsichere Kantonisten auf der Seite der Linken die rumänische Regierungschefin, auf der Seite der EVP Viktor Orban. Griechenlands Tsipras ist mit der Linksfraktion verbunden, Großbritanniens Theresa May mit der rechtskonservativen Parlamentsfraktion, der auch die polnische Regierungspartei angehört.

Europa wird nach den Europawahlen ein zersplittertes politisches Bild bieten. Es ist wahrscheinlich, dass im zukünftigen Europaparlament Christdemokraten und Sozialdemokraten auf keine gemeinsame Mehrheit mehr kommen. Bündnisse mit den Liberalen und den Grünen werden erforderlich sein, um den Ansturm der nationalistischen Demagogen abzuwehren.

Anders als vor fünf Jahren ist der Wahlausgang keine zwingende Vorentscheidung über den Kommissionspräsidenten. Das Modell der Spitzenkandidaten, wonach die stärkste Fraktion automatisch den Juncker-Nachfolger stellt, ist geschwächt, weil Frankreichs Emmanuel Macron nicht mitspielt. Er bringt die  dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ins Spiel. Vestager ist Liberale. In Dänemark könnte es einen Regierungswechsel zu den Sozialdemokraten geben. Eine neue Regierung in Kopenhagen wird die  Chancen Vestagers nicht verbessern. Angela Merkel und die anderen christdemokratischen Regierungschefs sind ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber verpflichtet. Auch der Chef der Europäischen Zentralbank und der Ratspräsident müssen in diesem Jahr neu besetzt werden.

Zwei Tage nach den Wahlen wollen die Staats- und Regierungschefs Vorentscheidungen in den wichtigsten Personalentscheidungen treffen. Es könnte eine lange Verhandlungsnacht werden. Aus dem Europaparlament kommen Einwände,  dass der Sondergipfel unmittelbar nach den Wahlen den traditionell langwierigen Meinungsbildungsprozesse unter den Abgeordneten entwertet. Mag sein, aber Europa kann sich institutionelle Blockaden nicht leisten.

Portugals sozialistischer Regierungschef Antonio Costa will fraktionsübergreifend mit Frankreichs Emmanuel Macron unter dem Titel Renaissance eine Allianz zur Verteidigung der Union gegen den drohenden Zerfall bilden.   Wer fehlt sind deutsche Bündnispartner. Angela Merkel kommt in der Endphase ihrer Kanzlerschaft über Routine nicht hinaus. Die Rufe nach europapolitischer Kurskorrektur werden zumindest aus Wien in Zukunft leiser werden.  Wirklich einfacher werden die europäischen Entscheidungsprozesse dadurch noch nicht.