Russlands NGO Memorial in Gefahr, Falter Maily, 19.11.2021

Ich weiß, das wichtigste Gesprächsthema ist heute die Kehrtwende der Regierung zum Lockdown und die bevorstehende Impfpflicht, die vorläufig kein anderes EU-Land einführt. Bei aller Empörung über vergangene Versäumnisse: Die österreichische Politik gibt damit ein Lebenszeichen der Vernunft. Das Ruder radikal herumzureißen, wenn man sich in eine Sackgasse manövriert hat, ist ein sinnvoller Schritt.

Aber verschieben wir die Diskussion, wie es soweit kommen konnte, auf später. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf eine dramatische Entwicklung in Russland richten, die nichts mit Covid-19 zu tun hat, sehr wohl jedoch damit, dass in der russischen Öffentlichkeit der Obrigkeit kaum jemand irgendetwas glaubt. Egal, ob es um Corona oder irgendein anderes schwieriges Thema geht.

In Moskau ist die traditionsreiche Menschenrechtsorganisation ‚Memorial‘ von der behördlichen Auflösung bedroht. ‚Memorial‘ wurde von Opfern des Stalinismus in der Sowjetunion in den Anfängen der Reformpolitik unter Michail Gorbatschow gegründet. Erstmals traten in Moskau öffentlich Überlebende des Gulag auf, die Jahrzehnte in Lagern verbracht hatten. Mit uns Auslandskorrespondenten verfolgten dicht gedrängt viele Sowjetbürger die Lebensberichte der Mitstreiter und Angehörigen von Leo Trotzki, Nikolai Bucharin und anderer von Stalin ermordeter Bolschewiki.

‚Memorial‘ ist an der Gegenwart genauso interessiert wie an der Vergangenheit. Der tschetschenische Machthaber von Putins Gnaden Kadyrow ist für die Menschenrechtsorganisation ein Auftragsmörder und Diktator. Der gnadenlosen Repression ist die ‚Memorial‘-Vertreterin im Kaukasus, Natalia Estemirowa, zum Opfer gefallen. Sie wurde entführt und ermordet.

Die russische Staatsanwaltschaft beschuldigt die traditionsreiche NGO als ausländischer Agent zu agieren und Terrorismus zu unterstützen. Memorial erhält Zuschüsse von der Heinrich Böll-Stiftung aus Deutschland und der Soros-Foundation. Ende November wird das russische Höchstgericht die Auflösung verkünden, das gilt als sicher. Was dann mit den unzähligen Dokumenten aus dem Gulag passiert, die ‚Memorial‘ gesammelt hat, ist unklar.

Die Historikerin Irina Schtscherbakowa war bei der ‚Memorial‘-Gründung dabei. Gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP spricht sie von einer Wandlung des Putin-Regimes zur Diktatur. ‚Memorial‘ zählt die politischen Gefangenen in Russland. Es gibt heute 420 bekannte Namen, viel wie mehr als vor einem Jahr. Wenn man die Dunkelziffer einberechnet, schätzt ‚Memorial‘-Experte Sergej Davidis, dass zweimal bis dreimal mehr russische Bürger aus politischen Gründen in Haft sind. 1987 gab es in der Sowjetunion 700 politische Gefangene. Damit wären heute unter Putin mehr Dissidenten in Haft als in den letzten Jahren der UdSSR.

Nicht alle Freiräume sind in Russland beseitigt. Aber Putin agiert immer mehr wie sein Verbündeter Lukaschenko in Belarus. Eine verstörende Entwicklung. Dass autoritäre Staaten nicht automatisch besser mit der Pandemie umgehen als Demokratien, zeigt übrigens Russland deutlich. Das Vertrauen in den Sputnik-Impfstoff, von dem unser Ex-Kanzler so geschwärmt hat, ist gering und Experten vermuten in der Realität ein Vielfaches der offiziellen Opferzahl von 260.000 russischen Covid-Toten.

Bedrückend, finde ich.

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