Prigoschins Ende und Russlands Opposition, Falter Maily, 24.8.2023

Die Nachricht, dass Söldnerführer Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz umgekommen ist, hat in Russland wie eine Bombe eingeschlagen. So wie Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch 1934 die Führung der SA umbringen ließ, hat sich wahrscheinlich Putin seines unberechenbaren Adlaten entledigt. Auf den Tag genau vor zwei Monaten hatte der Chef der Wagner-Gruppe seine Meuterei gegen Moskau gestartet. Erst vor zwei Tagen ist Jewgeni Prigoschins Verbündeter im militärischen Establishment, General Sergej Surowikin, abgesetzt werden. Auf militärnahen Telegram-Kanälen gibt es wilde Spekulationen, die russische Luftwaffe oder eine Bombe könnten das Prigoschin-Flugzeug abgeschossen haben. Prigoschin war ein brutaler Killer, der tausende Kids ohne mit der Wimper zu zucken für die angebliche Ehre Russlands und für Putin in den Tod geschickt hat. Sein Lebensweg steht für die Brutalisierung der russischen Gesellschaft, die auch erklärt, warum es so wenig Opposition gegen den Ukraine-Krieg gibt.Der russische Ukraine-Krieg wird wahrscheinlich nicht so bald militärisch entschieden werden, das ist die Schlussfolgerung, die wir aus den Entwicklungen dieses Sommers ziehen müssen. Den Ukrainern gelingt kein Durchbruch. Die Russen müssen froh sein, dass sie ihre Eroberungen halten können. Der Krieg wird weiter gehen. Für die ukrainischen Verteidiger ist das eine bittere Erkenntnis, denn es heißt, dass auch der russische Terror aus der Luft gegen zivile Ziele weiter geht.Umso wichtiger ist es, was sich in Russland tut. Von der inneren russischen Front sind keine guten Nachrichten zu vermelden. Die Zustimmung zum Angriffskrieg in der Bevölkerung bleibt hoch. Putin-Verbündete überbieten sich mit blutrünstigen Vernichtungsphantasien gegen den Westen im Fernsehen.Alexei Navalny, der wichtigste politische Gefangene des Landes, ist vor wenigen Wochen zu einer neuen 19-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Navalny ist krank und muss immer wieder in Einzelhaft unter extrem schweren Bedingungen. Möglicherweise will das Regime seinen lautstärksten Kritiker umbringen.Ausgerechnet in dieser düsteren Situation veröffentlicht Navalny aus dem Gefängnis ein längliches Manifest, in dem er vor allem die als Fans der Marktwirtschaft und Demokraten bekannten Politiker um Ex-Präsident Jelzin für die katastrophale Entwicklung unter Putin verantwortlich macht. „My fear and my loathing“, „Meine Ängste und mein Hass“ ist der Titel des Manifests, in dem sich Navalny die demokratischen Oppositionellen gegen Putin vornimmt. In Phasen der Isolation passiert es oft, dass sich Oppositionelle in internen Fraktionskämpfe aufreiben.Navalnys Manifest hat in der russischen Exilopposition einigen Staub aufgewirbelt. Bemerkenswert ist, dass auch direkt attackierte Persönlichkeiten ihre Solidarität mit dem Gefangenen beteuern. Russische Persönlichkeiten sprechen offen aus, dass die Chancen für ein freies Russland „direkt vom Sieg der Ukraine in diesem Krieg“ abhängen. So formuliert es der ehemalige liberale Wirtschaftsmanager und Stellvertretende Ex-Regierungschef Alfred Koch. Das „wichtigste ist, dass wir der Ukraine helfen diesen Krieg zu gewinnen,“ sagt der nunmehrige Galerist und früher in der Politik tätige Marat Gelman.Ende Juli wurde der russische Sozialist Boris Kagarlitsky in Moskau unter der Beschuldigung verhaftet, dass er Terrorismus verteidigt. Mitte September wird ihm der Prozess gemacht. Kagarlitsky hatte einen Dohnenangriff auf die russische Brücke auf die Krim als „vom militärischen Standpunkt verständlich“ bezeichnet. Der unabhängige Sozialist war unter Breschnew in der Sowjetunion und später unter Jelzin mehrmals im Gefängnis. Er wurde zu einem Symbol dafür, dass es in Russland noch unabhängige marxistische Intellektuelle gibt. Jean-Luc Mélenchon, Tariq Ali, Jeremy Corbyn und andere westliche Linke solidarisieren sich mit Kagarlitsky.In der Ukraine führte das zu einer Diskussion. Kagarlitsky hatte 2014 die Annexion der Krim und die russische Invasion in der Ostukraine publizistisch unterstützt. Er galt als Vertreter einer patriotischen Linken, die bei aller Ablehnung Putins die russischen Eroberungen begrüßte. Aber 2022 lehnte er die Invasion ohne Wenn und Aber ab. Der von Kagarlitsky mitorganisierte Youtube-Kanal Rabkor wurde zu einer Plattform innerrussischer Kriegsgegner, schreibt der ukrainische Publizist Andriy Movchan. Ein entscheidender Grund für Kagarlitskys Inhaftierung.In meiner Zeit als ORF-Korrespondent in Moskau während der Gorbatschow-Jahre war Boris Kagarlitsky ein toller Gesprächspartner, der uns (linken) Westlern mit seiner Erfahrung und seinem unabhängigen, wachen Geist half, die Dynamik des Umbruchs zu verstehen. Die Freilassung Kagarlitskys und der vielen tausend politischen Gefangenen in Putins Russland sollte eine selbstverständliche internationale Forderung sein, auch in dem für seine Drähte nach Moskau bekannten Österreich, findet ihr
Bild von Raimund LöwIhr Raimund Löw
MOSKAUER EIN- UND AUSBLICKETurbulente Tage in Russland: Was der Ukrainekrieg und die Revolte der Wagner-Söldner für Russland bedeuten und wie die Menschen mit der Extremsituation umgehen, analysieren die ORF-Moskau Korrespondentinnen Miriam Beller und Paul Krisai im Sommergespräch mit Raimund Löw. Die neueste Folge des FALTER Radio hören Sie hier.

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