Netanjahus Regime und der Elefant im Raum

Mitte September wird das israelische Höchstgericht über das Gesetz urteilen, mit dem die Regierung Netanjahu die Macht der Justiz beschneidet. Seit vielen Monaten versuchen hunderttausende Demonstranten zu verhindern, dass ihr Staat in autoritäre Richtung abbiegt. Es ist die beeindruckendste Mobilisierung der Zivilgesellschaft seit langem. Trotzdem haben die rechtsextremen Regierungsparteien in Jerusalem mit dem Umbau begonnen. Jetzt wartet das Land auf die Reaktion der Obersten Richter, die über die Rechtmäßigkeit des umstrittenen Gesetzes befinden müssen.  

  In einem dramatischen Appell verweisen israelische und amerikanische Intellektuelle auf den Zusammenhang zwischen Attacken auf die Justiz und Palästinenserpolitik, der in der Protestbewegung oft verdrängt wird. Der „Elefant im Raum“, so heißt es in dem  Offenen Brief, sei das „Apartheidregime“ in den besetzten Gebieten, das durch die Justizreform gefestigt wird.

  «Der ultimative Zweck der Justizreform besteht darin, die Beschränkungen für Gaza zu verschärfen, den Palästinensern gleiche Rechte sowohl jenseits als auch innerhalb der Grünen Linie zu entziehen, mehr Land zu annektieren und alle Gebiete unter israelischer Herrschaft ethnisch von ihrer palästinensischen Bevölkerung zu säubern“, liest man in dem Aufruf: „Es kann keine Demokratie für die Juden in Israel geben solange die Palästinenser in einem Apartheidregime leben“.

Das Manifest ist von mehr als 1500  Persönlichkeiten unterzeichnet worden. Der israelische Historiker Benny Morris und der ehemalige Parlamentspräsident Avraham Burg unterstützen den Aufruf, genauso wie US-Osteuropaspezialist Timothy Snyder.  Holocaust-Experte  Omer Bartov, der den Offenen Brief initiiert hat,  forscht in den USA über den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa. Er warnt, dass Israel mit bekennenden Rassisten in der Regierung den Weg der Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in Richtung Faschismus gehen könnte.

 Der Begriff des Apartheidsystems ist umstritten. Er wird von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem verwendet, um das Besatzungsregime zu beschreiben. Amnesty International und Human Rights Watch zogen nach und lieferten ausführlich dokumentierte Begründungen. Israelische Vertreter schossen mit dem Vorwurf des Antisemitismus zurück, taten sich aber schwer die detaillierte Auflistung des Systems der Ungleichheit zu widerlegen, in dem sechs Millionen Juden und sechs Millionen Palästinenser zwischen Mittelmeer und Jordan leben.

  In den jüdischen Communities lehnen auch Gegner der Besatzung den Vergleich mit dem südafrikanischen Apartheid ab. Der Schriftsteller Doron Rabinovici erinnert, dass es in Israel keinen  staatlich verordneten Rassismus gibt. In Robben Island, dem Gefängnis des späteren Präsidenten Nelson Mandela, sind Kleidung und Verpflegung nach Rassenzugehörigkeit getrennt gewesen. In Israel arbeiten arabische Abgeordnete, Ärzte und Anwälte, was in Südafrika undenkbar war. Aber die Demokratie kann nicht gewinnen, wenn die Besatzung verschwiegen wird, sagt Rabinovici. Ein Volk, das ein andere unterdrückt, schmiedet seine eigenen Ketten, wusste schon Marx.

 Das  rechtsextreme Kabinett in Jerusalem verschiebt die Debatte.  In Haaretz, der linksliberalen Tageszeitung, schreibt der aus Südafrika stammende Journalist Benjamin Pogrund, dass er seine Meinung ändert. Mit aller Kraft habe er früher in Artikeln und Interviews den Begriff Apartheid für Israel zurückgewiesen. Aber jetzt erinnert ihn Israel 2023 an seine Jugend in Cape Town 1948,  als harmlos klingende Gesetzesänderungen Schritt für Schritt das System rassistischer gemacht haben.

 Während die Regierung die Unabhängigkeit der Justiz angreift, schüren die Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, zuständig für die Palästinensergebiete und Nationale Sicherheit,  Übergriffe bewaffneter Siedler gegen palästinensische Dörfer. Die Streitkräfte agieren als Komplizen, schreibt Pogrund, auch das kenne er aus Südafrika. In den meisten Fällen schweigt die Justiz. Es ist eine Realität, die den Verleumdern Israels in die Hände spiele.

  Israel ist  durch seine Geschichte und seine Menschen, politisch und militärisch  mit dem Westen verbunden. Der Weg in den Autoritarismus droht auch in den USA und in halb Europa. Das drakonische Besatzungsregime, egal, wie es genannt wird, ist die große zusätzliche Bürde. Israel besetzt sich gerade selbst, beschreibt der US-Nahostexperte Juan Cole ironisch die Lage.

 Die Unterzeichner des Offenen Briefes zum „Elefanten im Raum“ fordern von Regierungen und jüdischen Organisationen Unterstützung für  die Protestbewegung  und ein Engagement für die Gleichberechtigung der Palästinenser. Es wäre ein Beitrag, der der demokratischen Zivilgesellschaft weltweit Mut macht.  

Das Desaster der Palästinensergebiete

Die israelische Besatzung dauert seit 1967. 650 000 jüdische Siedler leben unter fast 3 Millionen Palästinensern in der Westbank. Die palästinensische Autonomiebehörde hat begrenzten Einfluss und gilt als korrupt.  Die Besatzungstruppen gehen gegen bewaffnete Widerstandsgruppen vor. Siedler-Milizen brennen, plündern und töten ungestraft.  2023 wurden 190 Palästinenser in sogenannten Antiterroraktionen getötet. Über 590 Gebäude wurden abgerissen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*