Als Wladimir Putin im Mai 2010 zur Siegesparade nach Moskau lud, war es selbstverständlich, dass Angela Merkel dem Ruf Folge leistete. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg führt alle Europäer zusammen, so lautete die Botschaft. Deutsche Soldaten sind bei der Militärparade zum französischen Nationalfeiertag in Paris seit Jahren nichts Besonderes. In der Europäischen Union sind die einstigen Gegner Teil eines gemeinsamen politischen Systems. Durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit OSZE wurde der Rückgriff auf kriegerische Mittel über den Rahmen der Europäischen Integration hinaus tabuisiert. Russland hat diese Errungenschaft mit dem militärischen Vorgehen gegen die Ukraine erschüttert. Ob die deutsche Kanzlerin nach dem ukrainisch-russischen Drama zum 70. Jahrestag der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 9.Mai 2015 nach Moskau fahren kann, ist unklar. Die baltische Staaten und Polen habe ihre Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten bereits abgesagt. Was noch vor fünf Jahren als Normalität galt, wird jetzt zur diplomatischen Herausforderung. Immerhin: Merkel und Hollande haben die jüngsten Verhandlungen mit Moskau nach dem sogenannten „Normandie-Format“ unternommen. Nach der Annexion der Krim waren alle regulären Brücken zwischen dem Westen und Moskau abgebrochen. Francois Hollande lud Putin trotzdem zu den Feierlichkeiten in die Normandie, bei denen man der Landung der Alliierten 1944 gedachte. Es zur ersten Viererrunde mit Merkel und dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko, die jetzt wiederbelebt wurde. Das Weltkriegsgedenken hatte den Gesprächsfaden nicht völlig abreißen lassen. Aber nach 70 Jahren kann der Zweite Weltkrieg auch entzweien. Das beweist Asien. Der entscheidende Tag ist für Asien der 2.September. An dem Tag hat Japan als letzter ehemaliger Verbündeter Hitlerdeutschlands seine bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Je näher das Datum rückt, desto stärker steigen die Spannungen zwischen Japan, China und Korea, den wichtigsten regionalen Protagonisten. Eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte hat es in Asien nie gegeben. Die Weltkriegserinnerung ist Spielball der nationalistischen Machtspiele. Japans nationalkonservativer Premierminister Abe hat die Nachbarn bereits bei seinem ersten Amtsantritt 2012 verstört. Er besuchte gezielt den Yasukuni-Schrein, eine Gedenkstätte für Militärangehörigen, an der auch Kriegsverbrecher begraben sind. Der umstrittene Schrein ist eine Pilgerstätte für die nationalistische Rechte. Zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsendes will der Regierungschef die Entschuldigung von 1995 umformulieren, in der der damalige Ministerpräsident Tomiichi Murayama sein „tiefstes Bedauern“ für die Leiden ausdrückte, die Japan anderen Völkern zugefügt hat. Die zahlreichen Kontroversen um die historische japanische Verantwortung sollten ein für alle Mal beendet sein. Begriffe wie „Aggression“ und „Kolonialherrschaft“ will Premier Abe in der neuen Geschichtsinterpretation streichen, und dafür die friedliche Rolle Japans nach dem Zweiten Weltkrieg betonen. Vor allem China und Südkorea, die unmittelbaren Nachbarn, unterstellen Japan Geschichtsrevisionismus. Regelmäßig kommen wütende Proteste, wenn in Tokio ein Politiker bestreitet, dass gefangene Frauen in den Militärbordellen der japanischen Armee als Sexsklavinnen ausgebeutet wurden. China und Japan streiten über das Massaker von Nanking, bei dem die japanischen Besatzer nach chinesischer Rechnung 300 000 Menschen umgebracht haben. Japan fühlt sich in der Zwischenzeit als normale Regionalmacht. Premier Abe, der nach einem Wahlsieg Ende letzten Jahres selbstbewusster agiert denn je, will die Zwänge der Nachkriegszeit ablegen. Die Regierung plant eine Änderung der pazifistischen Verfassung, die den Streitkräften internationale Einsätze verbietet. Mit Blick auf die wachsenden Ambitionen Chinas unterstützen auch die USA ein stärkeres militärisches Engagement des Verbündeten. China revanchiert sich mit einer einzigartigen Initiative: Präsident Xi Jinping lädt so wie Putin zu einer Siegesparade. China zeigt der Welt sein neues Machtbewusstseins. Die geplante Heeresschau in Peking ist auch als Botschaft an die Nachbarn zu verstehen, mit denen Peking im Streit um Inseln und Meereszugänge liegt. Termin ist der 3.September, der Tag nach der japanischen Kapitulation. Zahlreiche befreundete Staatschefs werden erwartet. Nur in Taiwan wenden die Nachkommen der Kuomintang zaghaft ein, dass nicht Maos Kommunisten, sondern die Truppen Tschiang Kai-Schecks die Hauptlast des Krieges gegen die japanischen Besatzer getragen haben. Dass Xi Jinping gar seinen japanischen Gegenspieler Abe einladen könnte, wie das Putin in Richtung Merkel tut, kann sich in Asien niemand vorstellen. Die geopolitischen Verhältnisse in Asien und Europa sind ins Rutschen gekommen. Die Instrumentalisierung der Vergangenheit ist in vollem Gange.