In Europa haben jetzt die Regierungschefs das Heft in der Hand, so wackelig ihre Stellung auch sein mag. Die rechtsextremen Parteien werden im neuen Europaparlament von einer Mehrheit zwar weit entfernt sein, aber der Vormarsch der Nationalisten hält an. In Großbritannien und Italien haben radikale EU-Gegner bei den Europawahlen den ersten Platz erreicht. Matteo Salvinis Lega und die Brexit Partei von Nigel Farage bestimmen dort die politische Dynamik.
Im Sommer soll eine neue Garde in die Chefpositionen der EU-Kommission, im Rat und in der Europäischen Zentralbank einziehen. Das neue Personal wird starken Rückhalt brauchen, um den bevorstehenden Stürmen zu begegnen.
Im Herbst wird die Entscheidung fallen, ob Großbritannien einen harten Brexit anstrebt. Eine Totalkonfrontation mit den 27 restlichen Mitgliedsstaaten wäre die Folge. Theresa Mays tritt als konservative Parteivorsitzende und Premierminister ab. Die meisten potentiellen Nachfolger sind Hardliner. Für die Anhänger von Remain geht es um alles oder nichts.
In der britischen Auseinandersetzung mischt Donald Trump mit. Der US-Präsident unterstützt den Anti-EU-Agitator Boris Johnson als neuen Parteichef der Tories. Die Einmischung des Weißen Hauses in die innerparteiliche Entscheidung einer europäischen Partei ist einzigartig. Gleichzeitig plädiert Sicherheitsberater John Bolton für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Die Trump Administration sieht ihr geopolitisches Interesse in einem zersplitterten Europa.
Auch das Verhältnis der italienischen Regierung zu den europäischen Regeln muss sich klären. Der Weltwirtschaft schwächt sich ab, auch auf Grund des von Trump angezettelten Handelskrieges mit China. Italien ist besonders anfällig. Die populistische Regierung in Rom hat das Regelwerk des Euro in der Praxis weitgehend akzeptiert. Geht Italien in einer Wirtschaftskrise auf Konfrontationskurs gegen Brüssel, wäre der Euro gefordert wie zuletzt beim Bankenkrach 2008.
Die Finanzkrise hat Europa dank der deutsch-französische Achse überstanden. 2019 sind die wichtigsten Akteure in Paris und Berlin angeschlagen. Emmanuel Macron hat große Teile des Landes gegen sich. Die Berliner GroKo wackelt. In Deutschland waren die proeuropäischen Grünen die großen Gewinner, aber im Osten hat die rechtsextreme AfD gepunktet wie Le Pen in Frankreich. Die deutsche Regierung hat die europäischen Reformideen Macrons ignoriert.
Die bevorstehenden Personalentscheidungen zwingen die Regierungen über das Tagesgeschäft hinaus Weichen zu stellen. Ratspräsident Donald Tusk führt die Verhandlungen. Der Pole muss zu den nationalen Interessen auch die parteipolitischen Sensibilitäten berücksichtigen, die für die Mitgliedsstaaten sonst kaum eine Rolle spielen.
Der Kommissionspräsident wird von den Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen und vom Europaparlament gewählt, so steht es in den Verträgen. Die Realität ist anders. Die Initiative liegt weitgehend in den nationalen Hauptstädten. Sie geben auch den Ton an, weil das Europaparlament zersplitterter sein wird, als bisher.
Für die Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa oder einer Europäischen Republik, in der die Nationalstaaten verschwinden sollen, ist die Dominanz der nationalen Regierungen enttäuschend. Aber sie ist unvermeidlich. Die EU ist ein Hybrid, ein Zwischending zwischen einem Bund souveräner Staaten und einem Bundesstaat vom Typus BRD oder USA. Die laufende Renationalisierung verschiebt das Gewicht in Richtung der Mitgliedsstaaten.
Parteipolitik kann demgegenüber etwas Heilsames sein, weil sie grenzüberschreitend ist. Wenn die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager Chancen hat, erste Präsidentin der Europäischen Kommission zu werden, dann wegen der Unterstützung durch die Liberalen und nicht weil Dänemark so viel Einfluss hat. Dagegen kann es dem EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber zum Nachteil werden, dass er Deutscher ist. In Berlin wollen Viele den Chef der Deutschen Bundesbank Jens Weidmann in den Sessel des EZB-Präsidenten hieven. Zwei Deutsche in EU-Führungspositionen, das wäre zu viel. Scheitert Manfred Weber als Kommissionschef, dann steigen die Chancen für Weidmann.
Die neue österreichische Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein ist fraktionell nicht eingebunden. Die Kontakte auf höchster Ebene sind für sie neu. Mit Türkisblau hatte sich Sebastian Kurz als Versteher der Rechtsnationalisten einen Namen gemacht. Das Experiment ist gescheitert. Wenn das Wiener Expertenkabinett unter Kanzlerin Bierlein und Außenminister Alexander Schallenberg vom türkisblauen Flirt mit den integrationsunwilligen Visegrad-Staaten abgeht, dann wäre das eine Kurskorrektur, die in einer heiklen Umbruchsituation die proeuropäischen Kräfte stärkt.