Beim Endkampf um Syrien muss Europa helfen

Dass den europäischen Regierungen angesichts der Flüchtlingstragödie in Idlib, im Norden Syriens, nichts anderes einfällt, als Flüchtlinge abzuwehren ist eine Schande und traurig. Vergessen sind die Versprechen, dass Menschen, die Tod und Vernichtung fliehen, nicht mehr zurückgewiesen werden dürfen. Der Chef der Europäischen Stabilitätsinitiative Gerald Knaus verlangt zu recht eine internationale Notkonferenz zu Idlib, die zu einer Verteilung der 1 Millionen Flüchtenden führen muss. Im Falter analysiere ich die Ausgangslage für die begonnene Schlacht.

Nach erbarmungslosen Kämpfen und unzähligen Massakern geht der syrische Bürgerkrieg einem Ende zu. Im Nordosten tobt die letzte Schlacht um die Provinz Idlib. 900 000 Menschen sind auf der Flucht. In vollbepackten Autos, Lastwägen und überfüllten Bussen suchen sie unweit der Grenze zur Türkei Schutz. Nach Angaben der Vereinten Nationen handelt es sich um die größte Fluchtbewegung, die Syrien in den vergangenen neun Jahren erlebt hat.
In der Schlacht um Idlib spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Bei Angriffen syrischer Truppen auf türkische Stellungen sind mehr als ein Dutzend türkische Soldaten gefallen. Im Parlament in Ankara droht Präsident Recep Tayyip Erdogan mit offenem Krieg gegen das Regime in Damaskus. Die Türken haben ein Dutzend Stützpunkte errichtet, mehrere tausend Soldaten befinden sich auf syrischem Territorium. Damaskus musste die türkische Präsenz akzeptieren. Man erhoffte sich durch das türkische Militär eine Schwächung der Dschihadisten. Jetzt hat sich das Kräfteverhältnis verschoben. Aufgerüstet durch Russland und unterstützt vom Iran sind die Einheiten Baschar al-Assads in der Offensive. Aus der Vielzahl von Militärs und Milizen unterschiedlicher Provenienz in der letzten Hochburg der Rebellion ist ein internationaler Krisenfall geworden.
Die Türkei ist mit 3,5 Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge überfordert. Erdogan steht massiv unter Druck. Er hofft auf eine Befriedung in Nordsyrien, die eine Rückkehr der Flüchtlinge möglich machen soll. Das Gegenteil passiert: die neue Fluchtbewegung aus Idlib geht wieder in Richtung Türkei. Daher die ultimative Forderung Erdogans in Richtung Damaskus, den Vormarsch zu stoppen.
Schiedsrichter ist Russland, das mit dem Iran die wichtigste Schutzmacht Assads ist. Zwischen Ankara, Moskau und Teheran pendeln die Emissäre, um das befürchtete Gemetzel in Idlib zu verhindern. Geopolitisch ist die Situation hochkompliziert. Die Türkei ist NATO-Land und beherbergt einen wichtigen amerikanischen Militärstützpunkt in Incirlik. Aber in den letzten Monaten hat sich Erdogan vom Westen abgesetzt und die Nähe zum russischen Präsidenten Putin gesucht. Zum Entsetzen der USA kauft sich das türkische Militär russische Luftabwehrraketen. Im Kampf um Idlib verschiebt sich die Interessenslage von Neuem. Erdogan braucht die USA und die Europäer, um durch Druck auf Putin eine militärische Lösung für Idlib, wie sie Assad plant, zu verhindern.
Idlib ist eineinhalb Mal so groß wie das Burgenland. 4 Millionen Menschen halten sich in der nordwestlichen Provinz auf, die Hälfte sind Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes. Die Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, darunter viele Frauen und Kinder, sind häufig schon das zweite oder dritte Mal auf der Flucht. Die Truppen des Regimes hatten im Umkreis von Damaskus die Bastionen der Rebellen eingekesselt. Schließlich gab es Verhandlungen, die dschihadistischen Kämpfer erhielten freies Geleit in Richtung Idlib. Hunderttausende Zivilisten fürchteten Massaker der siegreichen Assad-Milizen und zogen mit in Richtung Nordwesten.
In Idlib hat eine von der Terrororganisation Al Kaida kommende Miliz namens Haiat Tahrir al-Scham die Oberhand gewonnen. 20 000 Kämpfer stehen unter dem Kommando der Dschihadisten. Es besteht ein internes Patt zu den etwa gleich starken protürkischen Milizionären. In den letzten Wochen haben sich die Assad-Milizen von Dorf zu Dorf vorgekämpft. Kommt es zur Entscheidungsschlacht, werden geschlagene Kämpfer und verzweifelte Zivilisten trachten, sich in türkische Flüchtlingslager diesseits und jenseits der Grenze zu retten.
In Idlib haben die Europäer ähnliche Interessen wie die Türkei. Kommt es zu einem Blutbad beim Ansturm der Assad-Milizen, wird Erdogan den Druck in Richtung Europa weitergeben. Die Union müsste möglicherweise eine größere Zahl von Flüchtlingen aufnehmen, als zuletzt.
Auf griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros herrschen in den Flüchtlingslagern für 42 000 Menschen schon jetzt katastrophale Zustände. Letzte Woche hat das Nachrichtenmagazin Profil einen dramatischen Bericht aus dem Camp auf Lesbos veröffentlicht, wo es keine Ärzte für schwerkranke Kinder gibt und die Polizei bei Protesten mit Tränengas gegen Kleinkinder und Alte vorgeht. Verantwortlich fühlt sich kein EU-Regierungschef. Brüssel, die Mitgliedsstaaten und Athen schieben sich gegenseitig die Schuld für das Desaster zu.
Eine neue Welle von Kriegsflüchtlingen aus Idlib, würde die Bemühungen für eine gemeinsamen Asylpolitik der Europäer endgültig zerstören. Wenn es Anfang März tatsächlich zu einem von Erdogan angestrebten Gipfel mit Macron, Merkel und Putin kommt, wird mit der Zukunft Syriens auch der Zustand Europas zur Disposition stehen.

ZUSATZINFO
Der syrische Bürgerkrieg hat seit 2011 400 000 Tote gefordert. Mehr als die Hälfte der 21 Millionen zählenden Bevölkerung ist auf der Flucht, 5 Millionen außerhalb des Landes. Ob es in der letzten Rebellenhochburg Idlib zu einem neuen Blutbad kommt, hängt auch von den Großmächten Türkei, Russland, Iran, Deutschland und Frankreich ab.

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