Angriff auf Europa. Die Nationalisten und die Europawahlen

In Europa gehört nationalistisches Theater zum innenpolitischen Alltag. Im anbrechenden Europawahlkampf überträgt sich die verbale Brutalität auch auf die Beziehungen zwischen Nachbarstaaten. In Italien wetteifern die Chefs der beiden populistischen Regierungsparteien mit Beschimpfungen gegen den französischen Präsidenten Emanuel Macron. Die Rebellion der Gelbwesten haben Regierungspolitiker in Rom enthusiastisch begrüßt. An der Migration soll Frankreichs Afrikapolitik schuld sein. Italienische Terroristen würden auf französischem Boden beim Champagnertrinken geschützt und italienische Pendler an der Grenze schikaniert.
Die Fünf-Sterne-Bewegung will bei den Europawahlen mit den Gelbwesten gemeinsame Sache machen. Als Arbeitsminister Luigi Di Maio sich auf französischem Boden demonstrativ mit einem Hardliner traf, der eine Militärregierung statt Macron propagiert, schlug die Regierung in Paris zurück. Der französische Botschafter in Rom wurde zu Konsultationen einberufen.
Streitigkeiten sind in Europa keine Seltenheit. Aber in der Europäischen Union werden sie normalerweise juristisch versachlicht und am Verhandlungstisch ausgetragen. Einen offenen diplomatischen Disput samt Abzug des Botschafters hat es zwischen Italien und Frankreich im Zweiten Weltkrieg das letzte Mal gegeben.
Die Europawahlen zwischen 23. und 26.Mai werden zur Schlacht über den zukünftigen Einfluss des aggressiven Nationalismus auf die Institutionen der Europäischen Union. 705 Abgeordnete werden in Zukunft die 350 Millionen wahlberechtigten Bürger vertreten.
Als Schlüsselfigur inszeniert sich der Chef der rechtsextremen Lega, Innenminister Matteo Salvini. Der Italiener ruft zum Sturz Macrons als Präsident Frankreichs auf. Im Europaparlament bildet die Lega mit Marine Le Pens Rassemblement National, der FPÖ und dem niederländischen Islamhasser Geert Wilders eine von mehreren Rechtaußenfraktionen. Aber Salvinis Ausstrahlung reicht bis zum nationalkonservativen Ungarn Viktor Orban, der unverändert zur Europäischen Volkspartei gehört.
Was Vielen nicht bewusst ist: sowohl Salvini als auch Le Pen waren jahrelang Abgeordnete des Europäischen Parlaments. „Allzu oft habe ich Salvini weder in Brüssel noch in Strassburg gesehen,“ erinnert sich der Südtiroler Europaabgeordnete Herbert Dorfmann im Podcast Falter Radio. „Das Europaparlament war nie Mittelpunkt seiner Tätigkeit, eher der Mittelpunkt seines Einkommens.“ Seinen Wählern verspricht Salvini heute ein anderes Europa, sagt Dorfmann. Er ist ein exzellenter Kommunikator und hat ein unglaubliches Gefühl dafür, was die Menschen hören wollen. An der Grundidee, die heutige Europäische Union zu zerstören und zu einem Europa der Nationalstaaten zurückzubauen, hat sich durch die Regierungsfunktion des Rechtsaußenmannes, nicht geändert, so Dorfmann.
Dass Salvini&Co im nächsten Europaparlament die Macht übernehmen, ist ausgeschlossen. Aber sie sind im Aufwind. Meinungsumfragen geben ultrarechten EU-Gegnern insgesamt zwischen 20 und 25 Prozent der Stimmen. Viel, aber von einer Mehrheit weit entfernt.
Die meisten rechtsrechten Zugewinne kann die Fraktion Europa der Nationen und Freiheit ENF erwarten, der die FPÖ, die Lega und Le Pen angehört: von bisher 37 Abgeordneten könnte sie sich auf 63 Mandate verbessern. Erstmals tritt auch in Spanien, das bisher von der rechtsextremen Welle erspart geblieben ist, mit der Partei Vox eine Kraft an, die Chancen hat mit einem zweistelligen Ergebnis mitzumischen. Dafür wird durch den Brexit die britische UKIP mit dem wortgewaltigen Demagogen Nigel Farage verschwinden. Eine Internationale der Nationalisten kann höchstens punktuell funktionieren, zu groß sind die inhaltlichen Gegensätze. Ob es den Rechtsnationalisten gelingen wird, zumindest für den Wahlkampf eine europaweite Allianz auf die Beine zu stellen, ist unklar.
Bisher hat eine Art Großer Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten den parlamentarischen Alltag in Straßburg und Brüssel bestimmt. Die von jungen Politikwissenschaftlern betriebene Wahlforschergruppe @Europe Elects, die Umfragen in allen EU-Staaten zusammenfasst, sieht die Europäische Volkspartei mit 172 (bisher 221) Abgeordneten und die Sozialdemokraten mit 130 Abgeordneten (bisher 191) nach wie vor vorne. Bei den Mandatsvergleichen mit 2014 ist zwar zu berücksichtigen, dass das Europaparlament von 751 Abgeordneten auf 705 verkleinert wird. Aber beide Parteienfamilien müssen mit herben Verlusten rechnen.
Die Sozialdemokraten haben mehrere Schläge zu verkraften: den Zerfall der einst mächtigen Sozialistischen Partei Frankreichs, den Niedergang des Partito Democratico in Italien, die Schwäche der SPD und den Verlust der Labour Party wegen Brexit. „Uns bläst der Wind ins Gesicht“, sagt der scheidende SPÖ-Europaabgeordnete Josef Weidenholzer. Die skandinavischen Staaten, in denen die Sozialdemokraten besser liegen, fallen europaweit wegen der kleinen Bevölkerungszahl nur begrenzt ins Gewicht.
Im Europaparlament wird das Duopol der Macht verschwinden, prophezeit der EU-Experte Stefan Lehne für die kommende Funktionsperiode. Die Meinungsforscher von @Europe Elects sehen die Europäischen Grünen bei 48 Mandaten, die Liberalen bei 100 Mandaten. Zu den Liberalen, die in Österreich durch die Neos vertreten sind, wird im nächsten Europaparlament die französische Regierungspartei Emmanuel Macrons dazustoßen. Ihr Gewicht wird steigen. Die Liberalen und die Grünen werden bei der zukünftigen Koalitionsbildung verstärkt ins Spiel kommen, vermutet Lehne.
Das politische Zentrum, das die Integration geprägt hat, ist zwar durch die Attacken der Nationalisten, fehlende Reformbereitschaft und hausgemachte Krisen geschwächt, bleibt aber die dominierende Kraft in Europa. Bezeichnend ist die Entwicklung in Frankreich, wo die Revolte der Gelbwesten dem proeuropäischen Präsidenten massiv zugesetzt hat. „Vor ein paar Wochen herrschte richtige Panik an der Staatsspitze“, weiß der französische Journalist Bernard Guetta. „Aber das Blatt hat sich gewendet. Le Pen ist in den Umfragen wieder auf den zweiten Platz zurückgefallen. Macron hat sich stabilisiert, seine Zustimmungswerte steigen wieder.“ Allerdings sind die kühnen Vorschläge, mit denen Macron ein stärkeres Europa bauen will, verblasst. Deutschland ist auf den Reformplan nicht eingestiegen. „Macron ist nicht mehr der Messias für Europa“, sagt Guetta. Aber in Frankreich gibt es nur zwei Alternativen: Macron oder Le Pen. Damit bleibt Macron eine Führungspersönlichkeit von zentraler Bedeutung.
Brexit hat zu einer Ernüchterung geführt. Unabhängig von der britischen Besonderheit Nordirland zeigt das Chaos um den Austritt, dass es unmöglich ist, die europäischen Verbindungen unbeschadet zu kappen. Den Austritt aus dem Euro haben Salvini&Co vorläufig aus dem Programm genommen. EU-Austritt kommt bei den Bürgern nicht an. An die eigenen Öxit-Ideen von einer Rückkehr zu nationalen Währungen will in Österreich die FPÖ nicht erinnert werden. Die Begeisterung, mit der Heinz-Christian Strache einst das britische Referendum begrüßt hat, sieht man nur mehr in Internet-Videos der SPÖ.
Die Europäische Kommission lässt in den Eurobarometer Umfragen die Stimmung in den Mitgliedsstaaten messen. Bei den Antworten überwiegt 2018 die Zustimmung. 43 Prozent der EU-Bürger stehen der EU positiv gegenüber, 20 Prozent dezidiert negativ. Nur in der Finanzkrise, als Sparbücher und Banken bedroht waren, war das Image der Union besser. Die österreichischen Umfragewerte folgen dem Trend: 2018 sehen 40 Prozent die EU in positivem Licht, 4 Prozent mehr als im Vorjahr. 22 Prozent sind negativ. 37 Prozent erklären sich für neutral.
Für Österreich ergibt der an den Universitäten Krems und Graz durchgeführte sogenannte „Demokratieradar“, dass für 56 Prozent der Bevölkerung sogar „Vereinigte Staaten von Europa“ vorstellbar sind. Ausgeprägt proeuropäische Positionen könnten auf Resonanz stoßen, wenn sie politisch aufgegriffen würden.
Die türkisblauen Regierungsparteien fahren in der Europapolitik einen Schlingerkurs zwischen allgemeinen europäischen Beteuerungen und einer Abwehrhaltung gegen Migranten, die Österreich mehrmals ins Abseits geführt hat. Dass die Regierung wegen Drucks aus der rechtsradikalen Szene kurzfristig aus dem UNO-Migrationspakt ausgestiegen ist, den Österreich monatelang mitverhandelt hat, hat die Glaubwürdigkeit in den Augen der Partner beschädigt. Zu den Reformvorschlägen für eine Stärkung des Euroraums, wie ein Eurobudget und eine Europäische Arbeitslosenversicherung, hat sich Kanzler Kurz zurückhaltend bis ablehnend geäußert. Die häufig zitierte türkise Formel, dass es in großen Fragen mehr Europa geben soll, ist leer geblieben.
Die Kürzung der Kinderbeihilfe für zehntausende Kinder in Osteuropa, deren Eltern in Österreich arbeiten und Steuern zahlen, wird zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen. Die ungewöhnlich scharfen Worten mit der Sozialkommissarin Marianna Thyssen, eine belgische Christdemokratin, die Indexierung des gegeiselt hat, weil es keine Kinder zweiter Klasse in der EU geben kann, kümmert die ÖVP nicht. Ein einziges Gutachten, auf das sich die Regierung stützt, sieht die Rechtslage anders. Rechtsstreitigkeiten gibt es viele in der EU. Dass eine Regierung ganz gezielt EU-Regeln verletzt, wie Österreich, ist jedoch selten. In die ähnliche Richtung geht die Fortführung der Kontrollen an den Binnengrenzen zu Ungarn und Slowenien, die mangels jeglicher Notsituation längst den Schengen-Regeln widersprechen. Die EU-Kommission hatte bisher nicht die Kraft, sich diesen rechtswidrigen Praktiken mehrerer Mitgliedsstaaten entgegen zu stellen.
Erhard Busek, als ehemaliger Obmann das liberale Gewissen der ÖVP, kann dem Schlingerkurs des Nachnachfolgers wenig abgewinnen: „Für mich ist bei Kurz keine klare Europapolitik zu erkennen. Das ist ein Tanzen auf allen Kirtagen. Ein bisschen Visegrad, dann wieder doch nicht. Brennen für Europa findet man außerhalb der älteren Semester kaum mehr. Die Indexierung der Kinderbeihilfe kommt mir hässlich vor. Wir profitieren von den Leuten, die bei den Familien aushelfen und Alte betreuen. Aber Empörung ist keine entstanden.“
Den Spagat zwischen der proeuropäischen Grundstimmung im Land und den türkisen Nadelstichen gegen Europa spiegelt die Kandidatenliste der ÖVP wieder. Othmar Karas, der aus seiner Antipathie für die Wiener Koalition mit der FPÖ keinen Hehl macht, ist der schwarze Dissident in der Mannschaft. Staatssekretärin Karoline Edtstadler gibt die türkise Hardlinerin, vor allem beim Dauerthema Migration.
Wer aus der ÖVP-Liste tatsächliche Europaabgeordneter wird, soll durch die Vorzugstimmen entschieden werden, die jeder Kandidat erhält. Ein geschickter Schachzug um die Wähler zu mobilisieren, urteilt Erhard Busek: „ Ich habe viele getroffen, die sagen, türkis würde ich nicht mehr wählen, aber den Karas wähle ich“, sagt Busek. „Das bringt jedem etwas. Karas wird sich durch relativ viele Stimmen gestärkt fühlen. Gleichzeitig hilft das Kurz, der sagen kann, ich bin so offen, ich akzeptiere verschiedene Standpunkte.“
In den Meinungsumfragen kam die ÖVP danke der guten Werte von Sebastian Kurz zuletzt auf 35 Prozent. Die von Karas geführte Liste ist Favorit für den Platz eins. Dementsprechend schießen sich die Mitbewerber auf die ungewöhnliche Konstellation ein.
„Karas persönlich schätzen viele, ich auch,“ sagt der grüne Spitzenkandidat Werner Kogler. “Aber er lässt sich vor den Karren einer europapolitischen Geisterfahrt spannen. Es ist ein doppeltes Spiel. Wenn die Wahlen einmal geschlagen sind, wird Karas nichts mehr zu reden haben. Die Leute werden auf eine Leimroute gelockt. Eine Vorzugsstimme für Karas stärkt in Wirklichkeit Türkisblau.“
„Die ÖVP will mit Unklarheit gewinnen“, heißt es vom oberösterreichischen SPÖ-Europaabgeordneten Joe Weidenholzer, der selbst nicht mehr antritt. „Die Wähler wissen nicht, was sie mit dieser Liste bekommen: stärken sie die Mitte, für die Karas steht, oder die rechten Hardliner um Edtstadler und Kurz?“
Die SPÖ zieht nach den Turbulenzen um den Abgang von Christian Kern wieder an einem Strang, erwarten die Funktionäre. Christian Kern hat noch eine gemeinsame Kandidatur mit den Grünen und anderen proeuropäischen Kräften geplant. Erste Gespräche hat es gegeben. Diese Zeiten sind vorbei. Für das Europaparlament schlägt die SPÖ den ersten Wahlkampf unter der Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner.
Joe Weidenholzer berichtet von großem Zustrom bei einem Kampagnen Camp in Oberösterreich, weil vielen bewusst ist, dass es in Europa jetzt „um die Wurst“ geht. „Unser Problem ist, dass wir zu leise und zu defensiv unterwegs sind. Es wird nicht reichen, für ein soziales Europa einzutreten. Wir müssen offen sagen, dass es gilt, den Zerfall Europas zu verhindern.“
Die sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Andreas Schieder und Evelyn Regner sind Routiniers. Man traut ihnen einen soliden Wahlkampf zu, selbst angesichts einer Parteivorsitzenden, die noch nicht Tritt gefasst hat. Dass die Sozialdemokraten die ÖVP überholen werden, wie das offizielle Ziel lautet, gehört zum Zweckoptimismus von Wahlstrategen.
Erhard Busek sieht die ÖVP mit Karas auf Platz eins. „Bei den restlichen Spielern am Feld ist keine Europastrategie erkennbar“, moniert der EU-Veteran. „Am ehesten noch bei Neos-Kandidatin Gamon, die mit der Ansage Europaarmee und Europäischer Staat zumindest etwas anstößt. Voggenhuber, den ich sehr schätze, muss aufpassen nicht als Grantscherben zu wirken, wie in der ZiB 2. Die Folge einer Solonummer kann sein, dass es am Ende überhaupt kein grünes Mandat mehr gibt.“
Der Europawahlkampf darf für die Grünen nicht schief gehen. Bei den letzten Europawahlen 2014 war die Welt noch heil. Ulrike Lunacek erreichte 14,5 Prozent der Stimmen und drei Mandate. Eine Wiederholung dieses Traumergebnisses ist nach dem Desaster bei den Nationalratswahlen unrealistisch. Schon zwei Mandate wären ein Erfolg. Sechs oder sieben Prozent mit einem Mandat ein Lebenszeichen. Dass Bundessprecher Werner Kogler als Spitzenkandidat ins Rennen geht, macht deutlich, wie hoch der Einsatz ist. „Diesmal grün!“ wird der Schlachtruf sein, mit dem man die Fans mobilisiert. Kogler berichtet von der Motivation an der Basis. „Wir kämpfen uns zurück. In Salzburg werden wir im März gewinnen, haushoch sogar.“ Dass das Tief überwunden ist, zeige die Bereitschaft tausender Sympathisanten, sich für den bevorstehenden Wahlkampf zu engagieren. Für den Mitte März in Wien geplanten Europakongress sei das Interesse so groß, dass man den Saal mit 2000 Personen füllen könnte. Leider fehlt dafür aber das Geld.
Zur Kandidatur von Johannes Voggenhuber, an die man bis zuletzt nicht geglaubt hat, gibt man sich zugeknöpft. Wenn der Ex-Mandatar den Grünen 1-2 Prozent der Stimmen wegnimmt, kann das gefährlich werden.
In Europa sind die Grünen unterschiedlich aufgestellt. Während sie in Italien, Spanien und den meisten osteuropäischen Staaten wenig Gewicht haben, regieren grüne Politiker in deutsche Bundesländern, im schwedischen Königreich und in Städten oder Regionen der Niederlande. Im Europaparlament agieren sie als kompetentes Korrektiv zu den Großen. Der Finanzfachmann Sven Giegold gilt als Gegengewicht zu den einflussreichen Wirtschaftslobbys. Klimawandel und Umweltschutz, die Urthemen der Grünen, sind europäisch angelegt. Nur beim Freihandel sind die Grünen für populistische Demagogie anfällig, ähnlich wie andere linke Strömungen auch.
Die europäischen Spitzenkandidaten, die Deutsche Ska Keller und der Niederländer Bas Eickhout, beide aus Ländern mit starke grünen Bewegungen, werden auch in Österreich Wahlkampf machen. Werner Kogler sagt, er will auch den deutschen Grünstar Robert Habeck einsetzen.
Der EU-Experte Stefan Lehne sieht die europäischen Institutionen vor turbulenten Zeiten. Das erste Problem wird die ungelöste Situation rund um Brexit sein. Wenn es eine Verschiebung des Austrittsdatums gibt, was möglich ist, werden dann drei zusätzliche Monate bis zum Zusammentreten des neuen Europaparlaments im Juli 2019 reichen? Wenn Europäer und Brexiteers bis Ende 2019 oder noch länger Zeit brauchen, müssten die Briten eigentlich neue Europaabgeordnete schicken. Alle Mitgliedsländer müssen im Europaparlament vertreten sein, damit Beschlüsse gültig sind. Aber Europawahlen in einem Land, das gerade austritt, wären absurd. Eine komplizierte Sonderregelung wäre erforderlich.
Genauso schwierig sieht Lehne die Wahl des Nachfolgers von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident. Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber von der CSU, braucht im Europaparlament für eine Mehrheit voraussichtlich die Unterstützung der Liberalen. Aber viele Liberale favorisieren die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Das ist die toughe Lady, die gegen die internationalen Großkonzerne Amazon und Google ins Feld zieht. Aber Vestager kandidiert gar nicht bei den Wahlen. Die Liberalen haben einen schroffen Schwenk vollzogen und sind vom Prinzip abgegangen, dass nur europäische Spitzenkandidaten als Kommissionspräsidenten in Frage kommen. Emmanuel Macron lehnt das Spitzenkandidatenprinzip ab, solange es bei den Europawahlen keine grenzüberschreitenden Listen gibt.
Hürdenreich wird nach dem europäischen Wahlzyklus auch die Zusammensetzung der zukünftigen Europäischen Kommission, warnt Lehne. Die Kommission ist so etwas, wie Regierung der EU. Was wird passieren, wenn Italien, Ungarn und Polen antieuropäische Vertreter nominieren? Die Europaabgeordneten müssen jeden Kommissar nach einem Hearing bestätigen. Wird ein mehrheitlich proeuropäisches Europaparlament einem von Matteo Salvini oder Viktor Orban entsandten Kommissar seinen Segen geben? Wie kann eine EU-Kommission funktionieren, in der EU-Gegner vertreten sind? Europa hat noch viele Schlachten zu schlagen.

Podcast, Samstag, 16.2.2019
Italiens Salvini, Österreichs Strache und Südtirol. Ein Gespräch mit dem EU-Abgeordneten der Südtiroler Volkspartei Herbert Dorfmann

INTERVIEW EUGEN FREUND
Eugen Freund, Jg.1951, war im ORF Reporter, Auslandskorrespondent und Moderator der ZiB 1. Bei den Europawahlen 2014 kandidierte er als Spitzenkandidat der SPÖ und wurde EU-Abgeordneter. Freund tritt nicht mehr an.

Falter: Wie fühlt man sich am Ende einer Amtszeit als sozialdemokratischer Europaabgeordneter?
Freund: Es ist ein Gefühl der Wehmut, denn es ist einfach großartig jeden Tag mit Vertretern von 27 Nationen zusammenzuarbeiten. Es war für mich eine politisch unglaublich interessante Aufgabe, vor allem weil ich im Außenpolitischen Ausschuss tätig war.
Falter: Wie hat sich die Atmosphäre im Europaparlament in den 5 Jahren verändert?
Freund: Die Offensive der Nationalisten hat sich verstärkt. Die rechten Nationalisten und Populisten werfen sich in die sozialen Medien wie kaum andere und sie treiben die konventionellen Medien vor sich her. Diese Dynamik hat es zu meiner Zeit als Fernsehjournalist noch nicht gegeben.
Falter: Interessiert sich die SPÖ-Zentrale in Wien dafür, wie man als Europaabgeordneter abstimmt?
Freund: Es gibt keine Vorgaben. Im Außenpolitischen Ausschuss habe ich selbst entschieden, was ich tue.
Falter:Gab es Meinungsverschiedenheiten mit der eigenen Partei?
Freund: Am ehesten bei Themen, die mit Gen und Atom zu tun haben. Da unterscheiden wir Österreicher uns von allen anderen im EU-Parlament. Wenn irgendetwas im Entferntesten mit Gen oder Atom zu tun hat, wird automatisch mit Nein gestimmt. Jedes Jahr stimmt das EU-Parlament z. B. über die Finanzierung des Kernfusionsreaktors ITER ab, der ein wichtiges Forschungsprojekt ist. Die SPÖ-Abgeordneten enthalten sich oder stimmen dagegen, ich habe trotzdem dafür gestimmt. In der Genforschung ist das ähnlich. Die Österreicher sind da grundsätzlich dagegen, auch wenn es medizinisch bahnbrechende Entwicklungen gibt.
Falter:Warum ist es so schwer als Europaabgeordneter in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden?
Freund: Ich glaube, ich kann mir keinen Vorwurf machen. Ich produziere seit Beginn jede Woche ein Video auf Youtube über meine Tätigkeit. Auf Twitter habe ich 15 000 Follower. Aber keine 10 Prozent interessieren sich für das Youtubevideo.
Vor drei Monaten hatte ich im Rahmen einer kleinen Delegation in Belgrad eine offene Konfrontation mit russischen Abgeordneten. Ich habe ihnen ins Gesicht gesagt, dass wir uns die laufende mediale Einmischung aus Moskau nicht mehr bieten lassen werden. Null mediales Interesse.
Falter:Was war Ihr größtes Anliegen?
Freund: Ich bin immer für eine starke, gemeinsame Außenpolitik eingetreten. Für das Ende des Einstimmigkeit-Unsinns setzen sich jetzt auch Macron, Merkel und Juncker ein. Nicht wegen mir, aber weil es für eine stärkere Außenpolitik der EU dringend nötig ist. Vielleicht kommt es in ein paar Jahren wirklich dazu.

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