Algerien im zweiten Arabischen Frühling, Analyse im ORF, MiÖ

Ihr großes Ziel, eine fünfte Amtszeit von Langzeitpräsident Bouteflika zu verhindern, haben die Demonstranten in Algerien erreicht. Werden die jungen Leute weiter auf die Straße gehen?
Die Demonstranten geben sich nicht zufrieden. Das ist eine tiefe, riesige Bewegung. Drei Wochen lang war die Jugend des Landes auf der Straße. Es hat die ganze Woche weiter Proteste gegeben. Morgen ist Freitag, traditionell der Tag der größten Mobilisierung, man wird sehen, wie der verläuft.
Der Präsident hat ja nur einen halben Rückzug gemacht. Der Termin der Präsidentenwahlen vom April ist ja abgesagt worden, bei der er ein 5.Mal kandidieren wollten.
Wie es weitergeht ist unklar.
Hinter dem Präsidenten stehen natürlich die Militärs, der Geheimdienst, die Eliten der Staatspartei. Die treffen in Wirklichkeit nach wie vor die Entscheidungen. Damit will sich die Jugend nicht abfinden.
Präsident Bouteflika selbst ist sehr krank, er hat vor Jahren einen Schlaganfall überstanden, tritt aber in der Öffentlichkeit selten auf und kann nur kaum sprechen. Was bringt denn die algerische Jugend so stark gegen den Präsidenten auf?
Der kranke Präsident steht für ein Regierungssystem, bei dem man nicht genau weiß, wer verantwortlich ist. Die letzte Rede hat er vor sechs Jahren gehalten.. Die Algerier sprechen von der Staatsmacht mit dem vagen Begriff Le Pouvoir, die Macht. Der Eindruck der Menschen ist, sie werden von irgendwelchen Dunkelmännern regiert.
Diese Besonderheit des Algerischen Systems kommt zur wirtschaftlichen Misere dazu, der Jugendarbeitslosigkeit und Korruption.
Algerien ist ja durch einen Freiheitskampf gegen die Kolonialmacht Frankreich selbständig geworden. Das ist ein Unabhängigkeitskampf der bis Anfang der 60er Jahre viele begeistert hat. Die Tragödie des Landes ist die Tragödie vieler Länder in der Dritten Welt. Was als linke Befreiungsbewegung mit Unterstützung des Volkes begonnen hat endet 60 Jahre später als verkrustete und repressive Militärdiktatur.
Der arabische Frühling ist jetzt fast 10 Jahre her. Erleben wir in Algerien eine Neuauflage der Proteste, wie vor 9 Jahren?
Das ist tatsächlich eine ganz ähnliche Dynamik wie im arabischen Frühling. Die Jugend will Freiheit, Demokratie, ein besseres Leben und sie revoltiert gegen ein verkrustetes Regime. Das passiert nicht nur in Algerien sondern zur Zeit auch in einem anderen arabischen Land, im Sudan. Man kann ein Volk nicht dauerhaft unter der Knute halten.
Es wissen natürlich alle, wie dieser Aufstand damals schief gegangen ist, in Libyen und in Syrien, wo es bis heute furchtbare Bürgerkriege gibt. Daher sind in Algerien beide Seiten sehr vorsichtig. Sowohl die Demonstranten als auch die Regierung.
In Algerien kommt dazu, dass es schon einmal einen furchtbaren Bürgerkrieg gegeben hat, in den 1990erjahren. Die Militärs haben geputscht gegen den Wahlsieg einer islamistischen Partei.
Die Wiederholung einer solche Katastrophe will niemand riskieren. Bemerkenswert ist, dass es bei den Protesten überhaupt keine islamistischen Symbole oder Forderungen gegeben hat. Die meisten Demonstranten sind jung, sekulär, gebildet -genauso wie am Anfang im arabischen Frühling.
Algerien hat nach wie vor enge Verbindungen zur früheren Kolonialmacht Frankreich. Wie reagiert man in Paris auf die algerische Krise?
Es gibt viele Kontakte. Es leben hunderttausende algerische Staatsbürger in Frankreich, viele haben Familie in Algerien. Dazu kommen Franzosen, die nach der Unabhängigkeit 1962 Algerien verlassen mussten und nach Frankreich gegangen sind. Emotional sind die Verbindungen stark.
Gerade deshalb ist offizielle Frankreich sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend. Aber als ehemalige Kolonialmacht ist alles, was in Frankreich gesagt wird oder getan wird, sehr kritisch in Algerien aufgenommen.
Im Hinterkopf haben alle, dass, wenn die Krise eskaliert in Algerien, dass es dann zu einer Fluchtbewegung in Richtung Frankreich kommen könnte. Das war bisher überhaupt nicht der Fall, aber ausschließen kann man das nicht.
Daher hofft man auf eine sanfte Öffnung des politischen Systems in Algerien und vor allem eine Ende der wirtschaftlichen Stagnation. Algerien ist reich an Bodenschätzen. Es gibt Erdgas und Erdöl. Aber von diesem Reichtum profitieren einige Oligarchen. Es gibt wenig Arbeitsplätze. Viele Familien leben davon, dass sie von Angehörigen in Frankreich jeden Monat Geld überwiesen bekommen. Die trostlose Wirtschaftssituation ist ein wichtiger Grund für die anhaltenden Proteste.

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