Wenn atlantische Freunde streiten, regiert die Doppelmoral

In den Streit um  Geheimdienstaktivitäten unter Freunden kommt langsam Klarheit. Keith Alexander , der bullige NSA-Chef, ließ die Europäer  wissen, dass sie die Aufzeichnungen des Aufdeckers Edward Snowden leider nicht ganz verstehen. Die millionenfachen Telefonüberwachungsdaten aus Italien, Frankreich und Spanien, die in den Unterlagen auftauchen, sind nach amerikanischer Darstellung  Geschenke aus Europa im Rahmen üblicher Tauschgeschäfte zwischen den Diensten. Dass die französischen Nachrichtenermittler  Daten aus Nordafrika und dem Nahen Osten sammeln, hat Le Monde schon vor Wochen aufgedeckt.

Als Drehscheibe der Amerikaner in Europa agiert das Gouvernement Communications Headquaters GCHQ in Cheltenham unweit von London. Der Guardian berichtet, dass die Niederlande und Schweden ihre Geheimdienstleute zur Schulung nach Cheltenham schickten, um zu üben, wie man am besten Glasfaserkabel anzapft. Der NSA-Chef gibt den Ball an die Europäer zurück, die vergessen zu haben scheinen, wie eng sie mit den Amerikanern zusammenarbeiten.

Klar, der Lauschangriff gegen die deutsche Kanzlerin, lässt sich nicht unter die Kategorie der Terrorabwehr subsumieren. Er gehört  jedoch zur üblichen Neugierde fremder Schnüffler für alles, was in Staatskanzleien der Welt so passiert. Erstaunlich ist, warum Angela Merkel die Handyaffaire   politisch so hochspielt. Regierungen halten Zwischenfälle im Graubereich der Dienste normalerweise unter der Decke. Alle tun das gleiche, müssen aber Empörung simulieren, wenn ein Betriebsunfall die Sache an die Öffentlichkeit bringt.

Das Eingeständnis, dass Merkel jahrelang abgehört wurde, ist ein Waterloo   für den deutschen Bundesnachrichtendienst, der es  nicht einmal schafft das Handy der mächtigsten Politikern Europas zu schützen.  Francois Hollande, der beim EU-Gipfel vorletzte Woche die Spitzelaktivitäten mit Deutschland  aufs Tapet brachte, gab sich eleganter: auch auf das Kommunikationssystem des Elyseepalastes habe es Attacken gegeben, berichtete der Franzose. Die eigene Abwehr habe diese Angriffe aber selbstverständlich souverän zurückgewiesen. Ein französischer Präsident wird nie zugeben, dass er wehrlos abgehört wird.

Angela Merkel reagierte anders. Sie griff wütend zum Telefonhörer um sich bei Barack Obama zu beschweren. Halb Europa ist seither Zeuge der deutsch-amerikanischen Verstimmung. Es könnte  weitreichende außenpolitische Konsequenzen  geben. Das zeigte sich bereits beim Herbstgipfel der EU Ende Oktober.

Erstmals haben die Staats- und Regierungschefs  in Brüssel über die nachrichtendienstlichen Aktivitäten ihrer Länder gesprochen. Die Aufmerksamkeit galt nicht nur Merkel und Hollande, sondern auch  dem britischen Premierminister David Cameron. Der für das Aufsaugen von Kommunikationsdaten zuständige britische Nachrichtendienst  Gouvernement Communications Headquaters GCHQ hat   in das Computernetz des belgischen Telefonbetreibers Belgacom hochkomplizierte elektronische Wanzen eingebschleust, die alle Gespräche und Emails aus dem Belgacom-Netz nach London umleiteten. Großkunden von Belgacom sind alle EU-Institutionen und die NATO.

Dass Deutsche, Franzosen, Italiener, Spanier und die anderen EU-Staaten  ähnlich eifrig bemüht sind, die Partner elektronisch im Griff zu haben, wussten alle Regierungschefs am Tisch. Die gegenseitige Bespitzelung ist Ausdruck der lächerlichen Kleinstaaterei der Europäer. Was sich daraus ergab war ein nahezu revolutionärer Vorschlag: es soll zwischen den EU-Geheimdiensten einen formellen Nichtangriffspakt geben. Das klingt zwar bescheiden, wäre aber ein Quantensprung in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ein Nichtangriffpakt würde rasch zu aktiver Verschränkung führen, wie das Amerikaner und Briten in der Sicherheitspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg vorexerzieren, die aber in der EU fehlt.

Den Anstoß gab Deutschland. Die politisch entscheidende Frage ist, ob Merkels Handygate ein Zeichen ist, dass  die Wirtschaftsmacht Deutschland  außenpolitisch aufwacht? Wird sich Berlin, das sich in internationalen Krisen meist zurück hält, jetzt  verstärkt in der EU-Sicherheits- und Außenpolitik engagieren?  Der Wake Up Call wäre dringend nötig. Die Stellung Europas in der Welt ist massiv beeinträchtigt, weil sich zwar Frankreich und Großbritannien international  engagieren, aber Deutschland   desinteressiert bleibt oder gar auf der Bremse steht.

Ein Nichtangriffspakt zwischen Nachrichtendiensten setzt das höchste Vertrauen voraus, das Nationalstaaten zueinander haben können.  Dass die eng mit den Amerikanern verbundenen Briten sich zu einer solchen Partnerschaft  in der EU durchringen werden, ist unwahrscheinlich. Das deutsche Ansinnen könnte  damit auch Klarheit bringen, ob London überhaupt noch mitmachen will im Gemeinsamen Europa.