Zehn Tage nach dem Sturm der israelischen Polizei auf das Gelände der Al Aqsa Moschee und dem Abschuss von tausenden Raketen auf Israel ist unklar, ob im Nahen Osten ein neuer großer Krieg verhindert werden kann. Die materiellen und menschlichen Zerstörungen sind verheerend. Der nächtliche Himmel voller Raketen über Tel Aviv, die einstürzenden Hochhäuser von Gaza City und Pogromszenen zwischen Palästinensern und Juden in israelischen Städten zerstören die Illusion, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr wichtig ist.
Kommt es zu keinem Waffenstillstand wird der Druck auf das israelische Militär steigen, in Gaza einzumarschieren, um Raketenstellungen und Tunnels zu zerstören. Das Risiko eines umfassenden Gazakrieges ist weniger militärisch, als politisch: der Aufstand der palästinensischen Jugend in Israel und in der Westbank wird anhalten. Die Intifada der 1980-er Jahre hatte die besetzten Gebiete mehrere Jahre lahm gelegt.
Der Explosion von Gewalt und Hass kommt zu einer Zeit, in der die Nachbarschaft durch den Syrienkrieg und die Spannungen mit dem Iran destabilisiert ist. Die schiitische Hisbollah im Libanon verfügt über mehr Raketen als Hamas und der Islamische Dschihad in Gaza. Der Iran fährt sein Atomprogramm wieder hoch.
Der Einfluss der USA in der Region ist in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen. Donald Trump hat in Washington erst im letzten Herbst mit Benjamin Netanjahu und den Herrschern einiger Golfstaaten-Diktaturen pompös einen neuen Nahen Osten verkündet, in dem das Schicksal der Palästinenser keine Rolle mehr spielen sollte. Geschäfte der Israelis mit arabischen Machthabern sollten das Besatzungsregime für die Palästinenser in den Hintergrund drängen. Die Strategie ist gescheitert.
Der amerikanische Nahostkenner und New York Times Kolumnist Thomas Friedman erinnert, dass sich auch in Israel selbst der „naive Konsens“ durchgesetzt hat, wonach sich die Palästinenser damit abgefunden hätten, unter permanenter israelischer Kontrolle zu leben. In keiner einzigen der vier israelischen Wahlen in jüngster Vergangenheit Jahren hat Friede mit den Palästinensern auch nur die geringste Rolle gespielt. Premier Netanjahu hielt den Iran für das größte Problem.
Der österreichische Politikwissenschafter John Bunzl engagiert sich seit langem für Gleichberechtigung zwischen Juden und Palästinensern. Bunzl sagt, der Kern des Konflikts hat sich beim Streit um die Delogierung palästinensischer Familien im Stadtteil Scheich Dscharrach gezeigt. Die Häuser stehen auf Grundstücken, die vor der Staatsgründung 1948 im Eigentum jüdischer Besitzer waren. Rechte Siedler beanspruchen den Boden für sich. Sie wollen den Bezirk judaisieren. Die betroffenen Familien in Scheich Dscharach hatten ihre Häuser bei der Flucht aus Israel 1948 verloren. Eine Entscheidung des israelischen Höchstgerichts wurde verschoben. Bei früherem jüdischem Eigentum in Ostjerusalem ist eine Rückgabe an ehemalige Besitzer möglich. Palästinensische Flüchtlinge haben keine Chance verlorenen Grund und Boden zurück zu bekommen.
Die Ungleichheit vor dem israelischen Gesetz wird in der Westbank durch die Besatzung verschärft. Die islamistische Hamas ist nicht die Ursache sondern die Folge des Konflikts, sagt John Bunzl. Der Konflikt wird bleiben, auch wenn die Hamas, die der Westen als Terrororganisation ansieht, beseitig wäre.
In der aktuelle Eskalation gibt es eine Vielzahl politischer Interessen. Durch die spektakulären Raketenangriffe versucht die Hamas zur Führungskraft aller Palästinenser aufzusteigen. Auf der israelischen Seite ist Netanjahu der Gewinner, weil sich in der nationalen Krise alle um den Führer scharen.
Die Regierungen der USA und der EU verbinden ihre Aufrufe zur Deeskalation mit der Versicherung, dass Israel das Recht zur Selbstverteidigung hat. Ein richtige, aber ungenügende Aussage. Auch für das palästinensische Volk gibt es ein Recht auf Würde und Selbstverteidigung. Ohne einen historischen Kompromiss zwischen den beiden Völkern wird Sicherheit weder für Israel noch für Palästina möglich sein. Vor Jahrzehnten wusste das schon Bruno Kreisky. Symbole der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung wären vor Europas Regierungssitzen angebrachter, als die israelischen Fahnen zur einseitige Unterstützung der Regierung Netanjahu, die am Wiener Ballhausplatz, dem Sitz des Kanzleramtes, gehisst wurden.
ZUSATZINFO
In Israel und Palästina leben etwa 7 Millionen Juden und 7 Millionen Palästinenser unter Kontrolle Israels. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und B`Tselem sprechen von Apartheid. Der Internationale Strafgerichtshof untersucht Kriegsverbrechen. Die Regierung in Jerusalem warnt vor Antisemitismus.