Stellungskriege wohin das Auge blickt, 2022/2023

  2022 ist die Ukraine von einem Staat mit aufmüpfiger Zivilgesellschaft, superreichen Oligarchen und der Suche nach nationaler Identität zum Schlachtfeld in einem europäischen Krieg geworden. So viel hat sich im vergangenen Jahr so grundlegend verschoben, dass man Mühe hat, sich die Atmosphäre Ende 2021 zu vergegenwärtigen.

  Wolodymyr Selenskyj in Kiew, der ehemalige Schauspieler,  galt damals  als wankelmütiger Politiker, den die Eliten nicht ernst nehmen. Zwölf Monate später ist Selenskyi der Kriegspräsident, der den Widerstandswillen seines Volkes verkörpert. Hätte er sich abgesetzt als die russischen Invasoren Kiew im Handstreich nehmen wollten, säße heute eine Marionette Putins am ukrainischen Präsidentensitz.

  Der Ukrainekrieg ist  nicht einfach ein Stellvertreterkrieg der Supermächte, wie manchmal behauptet wird.  Die Ukrainer führen einen nationalen Befreiungskampf mit Unterstützung des Westens, so wie vor 50 Jahren unter Hot Tschi Minh die Vietnamesen mit Hilfe der Sowjetunion und Chinas gegen die USA. Militärisch mündeten die Kämpfe in der Ukraine in einem Stellungskrieg im Osten und Süden. Der ukrainische Generalstab erwartet einen neuen Sturm auf Kiew. 

Durch Luftangriffe gegen die zivile Infrastruktur will der Kreml der Ukraine das Rückgrat  brechen. Das Pentagon verfolgte mit Flächenbombardements gegen Nordvietnam das gleiche Ziel. Trotz des immensen Leides für die angegriffene Bevölkerung  blieben und bleiben militärische Erfolge für die Angreifer aus.

  Die Metapher vom Stellungskrieg, dessen Ausgang nicht entschieden ist, lässt sich auch auf politische Auseinandersetzungen quer über den Globus übertragen. Donald Trump hat mit den von ihm favorisierten rechtsextremen Kandidaten bei den Kongresswahlen in den USA einen Rückschlag erlitten. Es drohen neue Gerichtsverfahren. Die Republikaner verdoppeln jetzt die Anstrengungen  das Wahlrecht für Minderheiten einzuschränken. Ein Comeback des Demagogen Trump im Präsidentschaftswahlkampf 2024 wird schwer, ist aber nicht ausgeschlossen. Der Ansturm autoritärer Nationalisten auf die liberale Demokratie ist in den USA vorläufig gestoppt, beendet ist er nicht.

  Ein ähnliches Bild vom politischen Stellungskrieg zeigt sich in Europa. Der autoritäre Nationalist Victor Orban hat die Wahlen in Ungarn 2022 gewonnen, muss sich aber dem finanziellen Ultimatum der Europäischen Union beugen und Antikorruptionsregeln versprechen. Im Herbst 2023 wählt Polen. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit von Jaroslaw Kaczynski befindet sich im nationalistischen Taumel und dämonisiert Deutschland. Gleichzeitig muss Warschau sein Justizsystem reparieren, um Milliardenförderungen aus Brüssel nicht zu gefährden. Das Wechselspiel der Mitgliedsstaaten und Institutionen verhindert den von den Nationalisten betriebenen Zerfall der EU, entschieden ist die Auseinandersetzung nicht.

Die Türkei wählt im Juni 2023 Nationalversammlung und Präsident. Die wichtigsten Oppositionsparteien haben sich um die kemalistische CHP zu einer gemeinsamen Liste zusammen geschlossen, um den autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Sicherheitsnetze für die Demokratie wie in der EU gibt es für die Türkei keine. Die Wahlen werden zur Entscheidung über das politische System. Ein Gerichtsurteil, das  dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul verbieten soll zu kandidieren, heizt die Stimmung an.  Dazu kommen Kriegsaktionen gegen die Kurden in Syrien. Der türkische Urnengang ist die wichtigste  demokratiepolitische Entscheidung des kommenden Jahres.

  Der schwedische Soziologe Gören Therborn untersucht in der Zeitschrift New Left Review, ob es noch eine globale Linke gibt. Mit ihren unterschiedlichen Schattierungen hatte die Linke im 20.Jahrhundert Triumphe gefeiert und mit dem Stalinismus Katastrophen verursacht. In Teilen Europas und Lateinamerikas haben sich die Sozialdemoraten gehalten. Die Visionen von einst, wie die Welt für Gerechtigkeit und Friede organisiert werden könnte, sind verschwunden.

Der Protest gegen Ungleichheit, Gewalt und Raubtierkapitalismus ist unverändert aktuell, aber er wird von Protestbewegungen getragen und nicht mehr von einer gemeinsamen Ideenwelt, argumentiert Gören Therborn. Nur der Kampf um die ökologische Zukunft des Planeten ist global. Klimaaktivismus ist der Internationalismus unserer Zeit. Der Widerstand der Frauen im Iran nimmt die Fahne der Arbeiterproteste für Demokratie und Menschenrechte auf.  Wie damals schlagen Machthaber erbarmungslos zurück, wenn sie sich gefährdet sehen. Bei den Konfrontationen 2023 sind abrupte Bewegungen  in alle Richtungen möglich.

2023­

3.1.2023 – Neues US-Repräsentantenhaus. Knappe republikanische Mehrheit

24.2. 2023 – Es jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine

18.6. 2023 – Wahlen in der  Türkei. Die Opposition hofft auf einen Machtwechsel gegen Erdogan

Herbst  – Wahlen in Polen. Kaczynskis PiS muss zittern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*