In Brüssel findet heute der seit langem geplante EU-Gipfel statt, bei dem es wieder einmal um den Brexit geht. Ab 31.Oktober sollen die Briten ja die Europäische Union verlassen. Sogenannte allerletzte Entscheidungen hat es bereits mehrmals gegeben, dann wurde immer wieder verschoben. Wie groß sind die Chancen dass diesmal der geregelte Austritt tatsächlich passiert?
In den letzten Tagen ist in großer Hektik so etwas wie ein neuer Deal ausgehandelt worden, für einen geregelten Austritt GB aus der EU. Die EU-27 wollen diesen Deal, die britische Regierung unter Boris Johnson will diesen neuen Deal auch.
Die große offene Frage ist: kommt Boris Johnson mit diesem Austrittsvertrag im britischen Unterhaus durch? Dort hat er keine Regierungsmehrheit, die muss er noch zusammen bekommen. Da spielen die nordirischen Unionisten eine wichtige Rolle und sie haben ihre Zustimmung bisher nicht gegeben.
Die britische Innenpolitik ist unberechenbar. Aber Boris Johnson glaubt, das er bessere Karten hat als seine Vorgängerin Theresa May, die ja mehrmals mit ihrem Deal gescheitert ist.
Was ist denn der große Unterschied des jetzt verhandelten Austrittsvertrages zu früheren Versionen? Wer hat nachgegeben und wo?
Über weite Strecken ist der Austrittsvertrag unverändert. Die Briten werden viele Milliarden in das EU-Budget zahlen. Es wird eine Übergangsfrist bis Ende 2020 geben, damit sich alle Beteiligten auf die neue Situation einstellen können. Das heisst, wenn das Austrittsdatum 31.Oktober kommt und es dabei bleibt, wird an dem Tag gar nichts passieren, weil die Übergangsfrist läuft.
Der große Unterschied zu früher ist, dass der sogenannte Backstop verschwunden ist. Das war eine Rückversicherungsklausel, wonach Großbritannien in einer Zollunion mit der EU geblieben wäre, als Provisorium, aber zeitlich unbegrenzt. Um zu verhindern, dass zwischen Nordirland und der Republik Irland eine neue Grenze gibt. Dieser Backstop war den Europäern wichtig, die britischen Torys haben das abgelehnt.
Dieser Backstop ist jetzt weg. Das ist eine Konzession der EU 27. Dafür gibt es Sonderregeln für Nordirland, das ist eine Konzession der Briten.
Die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland wird nach dem Brexit eine EU-Außengrenze. Aber gleichzeitig macht man Regeln, dass man davon möglichst wenig sieht. Es ist ein bisschen ein Zeichen, wie absurd in vielerlei Hinsicht der gesamte Brexit ist.
Was spricht denn überhaupt dafür, den Briten so weit entgegen zu kommen? Nach dem zuletzt vorliegenden Vorschlag soll Nordirland ja auch die Möglichkeit haben den Sonderstatus alle paar Jahre aufzukündigen.
Da haben die EU-Verhandler, wenn das so drinnen ist, tatsächlich nachgegeben. In früheren Versionen ist man davon ausgegangen, dass nur beide Seiten gemeinsam diesen Sonderstatus für Nordirland aufkündigen können. Wenn beide Seiten entscheiden müssen, dann hätte das die Position der Republik Irland gestärkt, die ja EU-Mitglied ist und bleibt. Ein bisschen schwebt immer die Sorge mit, dass der Bürgerkrieg von früher in Nordirland zwischen Katholiken und Protestanten wieder hochkommen könnte, wenn nicht alles im Konsens passiert.
Man hat den Briten immer wieder hier nachgegeben, weil die Europäer natürlich ein großes Interessen haben, dass Großbritannien mit der Union auch in Zukunft konstruktiv verbunden bleibt. Die britischen Inseln werden nicht verschwinden, nur wegen des Brexit. Großbritannien ist über tausend Fäden mit Europa verbunden, kulturell, wirtschaftlich und auch in der Außenpolitik.
Mit oder ohne Boris Johnson als Premierminister wird die EU auf vielen Ebenen mit Großbritannien zusammenarbeiten. Das ist eine einvernehmliche Scheidung schon besser.
Es ist immer wieder auch von der Möglichkeit eines zweiten Referendums gesprochen worden. In London haben Hunderttausnede für eine neue Volksabstimmung demonstriert. Ist diese Idee jetzt vollständig vom Tisch?
Die EU-Befürworter in GB haben die Idee eines zweiten Referendums nicht völlig aufgegeben. Aber ein zweites Referendum ist unwahrscheinlicher geworden. Interessant ist, dass es trotz aller Verwerfungen um den Brexit keinen großen Meinungsumschwung gegeben hat in Großbritannien, in Richtung Revision des Referendums.
Was passiert hängt davon ab, was nach einem Deal in Brüssel im britischen Unterhaus passiert.
Im britischen Unterhaus geht es nicht nur um die nordirischen Unionisten. Johnson muss ein paar Dutzend Tory-Abgeordnete, die er vor wenigen Wochen herausgeworfen hat, wieder zurückgewinnen. Und offen ist auch, ob vielleicht doch auch Abgeordnete der oppositionellen Labour Party für einen solchen Deal stimmen werden, um einen Austritt ohne Vertrag zu verhindern.
Wenn Boris Johnson eine Mehrheit im Unterhaus für sein Abkommen bekommt, ist die Sache gelaufen. Dann wird er das als Erfolg präsentieren und er wird alles tun, um möglichst bald Neuwahlen zu organisieren. In den Meinungsumfragen liegen die Torys unter Boris Johnson zur Zeit deutlich voran. Die Oppositionsparteien werden alles daran setzen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Aber die Labour Party, die größte Oppositionspartei, kann sich nicht richtig entscheiden, ob sie für oder gegen den Brexit ist, und das verschafft den Konservativen politischen Spielraum.