Aus Afghanistan kommen nicht ausschließlich schlechte Nachrichten. Schon in den ersten Tagen seit dem Fall von Kabul gibt es in mehreren Städten Proteste gegen die neuen Herren. Mitten im Chaos. Das Durchschnittsalter der afghanischen Bevölkerung beträgt 18 Jahre. In den letzten 20 Jahren wuchs eine Generation heran, denen Widerstand gegen die ausländischen Besatzer wichtiger war als der Obskurantismus der Taliban. Die Städter wünschen sich nach den immer grausamer werdenden Terroranschlägen der letzten Jahre vor allem Frieden. Ein fundamentalistisches Regime wie vor 2001 werden sie nicht einfach akzeptieren.
Die große Gefahr: Das neue Regime wird verleitet sein, mit massiver Repression zu reagieren. Das freundliche Gesicht bei der ersten Pressekonferenz in Kabul, bei der die neuen Herren von offenen Armen für alle Bürger sprachen, könnte bald Geschichte sein. Eine Staatsmacht, die aus einem siegreichen Bürgerkrieg hervorgeht, fürchtet immer zuallererst, dass sich das Kriegsglück wieder wendet. Die erbarmungslose Unterdrückung potenzieller und realer Feinde ist die Folge. Die Menschen spüren die Gefahr und drängen unter Einsatz ihres Lebens zum Flughafen von Kabul und den Evakuierungsflügen des Westens.
Nach dem Fall Saigons 1975 haben die USA ihre Tore für 125.000 Südvietnamesen geöffnet. 2021 will Amerika bis zu 100.000 Afghanen aufnehmen. Kanada gibt grünes Licht für 20.000 Flüchtlinge. Die Europäische Union, deren Mitgliedsstaaten Teil der Anti-Taliban-Koalition waren, tut sich schwerer. Aber an der elementaren Solidarität mit den Mitkämpfern eines verlorenen Krieges werden auch die Europäer nicht vorbeikommen.
Womit wir bei der Haltung der österreichischen Bundesregierung wären. Österreich will vergessen machen, dass Dutzende Offiziere des Bundesheeres Teil der gescheiterten NATO-Mission waren. All die Jahre taten sie Dienst auf Militärstützpunkten, die auf lokale afghanische Mitarbeiter angewiesen waren. Die Vertretung der Europäischen Kommission und andere EU-Institutionen in Kabul hatten mehrere Hundert lokale Mitarbeiter. Weil Österreich nicht direkter Auftraggeber war, will Wien einer Diskussion über die Mitverantwortung am Schicksal dieser Menschen aus dem Weg gehen.
Anstatt angesichts des vom gesamten Westen angerichteten Debakels die geordnete Aufnahme von Flüchtlingen zu überlegen, wie das die Europäische Kommission verlangt, propagieren ÖVP-Kanzler Kurz und ÖVP-Innenminister Nehammer unverdrossen die Idee an Abschiebungen festzuhalten, unabhängig davon, dass diese nach Afghanistan gar nicht möglich sind.
Die türkise Regierungsspitze setzt in der afghanischen Tragödie auf Signale der Inhumanität. Die hiesige Regierungslinie wird in Deutschland nur von der rechtsextremen AfD vertreten, wundert sich der kundige Migrationsexperte Gerald Knaus im Mittagsjournal des ORF. Es ist eine Situation, die Vielen in Österreich die Schamesröte ins Gesicht treibt.
Die Verteidigung von Menschlichkeit in der Politik des offiziellen Österreichs mag zur Zeit wie ein Rückzugsgefecht aussehen, aber es wird geführt. Der Bundespräsident signalisiert seine Ablehnung der schändlichen Haltung. Die grünen Koalitionspartner werden nicht müde, ein menschenwürdiges Engagement einzufordern. Inhuman gleichgeschaltet ist Österreich noch lange nicht, meint
Ihr Raimund Löw
Auch zahlreiche österreichische Autorinnen, Autoren und andere Kunstschaffende haben sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung gewandt und menschenrechtliches Engagement für Menschen aus Afghanistan gefordert. Hier können Sie den Appell sowie die Namen der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner nachlesen:
Sehr geehrte Mitglieder der österreichischen Bundesregierung
Wir sind entsetzt über das Ausmaß an Rohheit, das die Regierung im Umgang mit Menschen aus Afghanistan an den Tag legt, sowohl was die bereits aus Afghanistan Geflüchteten betrifft als auch diejenigen, die noch aus Afghanistan flüchten können und werden. Länder in der Umgebung sollen als Auffanglager einspringen, weiter reicht das österreichische Regierungsengagement nicht.
Es ist ganz offensichtlich von der österreichischen Regierung noch nicht richtig verstanden worden: Afghanistan wurde von den radikalislamistischen Taliban überrannt, die das Land per Scharia regieren und damit alle Menschenrechte außer Kraft setzen wollen, insbesondere die Rechte der Frauen. Weitere Ausführung dazu erübrigen sich.
Wir fordern die österreichische Bundesregierung auf, sich der politischen Wirklichkeit zu stellen und mit allen anderen europäischen Staaten gemeinsam umgehend Vorkehrungen zu treffen, wie der Menschenrechtskatastrophe sofort und umfassend begegnet werden kann und klarzustellen, was der österreichische Beitrag, außer Abschiebungen in Umgebungsländer, dazu ist.
Gerhard Ruiss
Olga Flor
Doron Rabinovici
Sabine Gruber
Raoul Schrott
Elfriede Jelinek
Kathrin Röggla
Birgit Birnbacher
Lukas Resetarits
Daniel Wisser
Anna Mitgutsch
Paulus Manker
Alfred Komarek
Daniel Glattauer
Marlene Streeruwitz
Paulus Hochgatterer
Daniel Kehlmann
Anna Baar
Lydia Mischkulnig
Manfred Chobot
Josef Hader
Peter Henisch
Eva Schobel
Susanne Scholl
Heidrun Primas
Anna Weidenholzer
Erika Pluhar
Julya Rabinowich
Arno Geiger
Margit Schreiner
Martin Pollack
Chris Lohner
Cornelius Obonya
Karl Markus Gauß
Marion Wisinger
André Heller
Michael Köhlmeier
Monika Helfer
Peter Rosei
Christl Greller
David Schalko
Josef Haslinger
Christian Kolonovits
Fritz Widhalm
Barbara Frischmuth
Ilse Kilic
Anna Kim
Peter Paul Wiplinger
Siljarosa Schletterer
Nils Jensen
Gerhard Altmann
Ludwig Laher
Franzobel
O.P Zier
Erwin Steinhauer
Helmuth A. Niederle
Maria Stern
Ilija Trojanow
Gabriele Russwurm-Biró
Doris Kloimstein
Rainer Bischof
Johannes Diethart
Renate Welsh
Felix Dvorak
Franz Forster
Karl Müller
Ana Bilić
Ewald Baringer
Gregor Seberg
Elmar Mayer-Baldasseroni
Thomas Schlager-Weidinger
Sonja Henisch
Hanne Egghardt
Mark Klenk
Cornelia Schäfer
Marlies Thuswald
Sieglind Demus
Herbert Arlt
Erna Pfeiffer
Nathalie Rouanet
Evelyn Brandt
Gregor Thuswaldner
Marianne Gruber
Gloria Kaiser
Markus Kupferblum
Eva Petrič
Maja Haderlap
Barbara Ambrusch-Rapp
Käthe Kratz
Martin Amanshauser
Franz Josef Czernin
Herbert Gnauer
Martin Winter
Margit Hahn
Ulrike Moschen
Erika Kronabitter
Herbert Eigner-Kobenz