In der Pandemie ist jeder sich selbst der nächste

Die Story ging um die Welt. Als Akt moderner Piraterie beschrieb der Berliner Innensenator Andreas Geisel die Methoden des großen Bruders USA in der Corona-Krise. Eine für die Berliner Polizei bestellte Lieferung von 200 000 N95 Gesichtsmasken aus China hätten amerikanische Regierungsbeamte beim Verladen am Flughafen von Bangkok nach New York umdirigiert. Ähnliche Szenen beschreiben französische Politiker. Die Amerikaner kommen in China auf das Rollfeld, zahlen für Masken den drei- oder vierfachen Preis und die Lieferung geht in die USA, berichtet Dr.Jean Rottner aus der Region Grand-Est. In Washington weiß man nichts von solchen Zwischenfällen. Die Berliner Polizei kann den Vorfall nicht mehr bestätigen. In der Corona-Krise liegen die Nerven blank.
Ähnliche Vorwürfe gibt es auch unter Nachbarn. In Italien ist man empört, weil Tschechien eine für die Lombardei bestellte chinesische Lieferung für die eigenen Spitäler umdirigiert hat. Österreichs Regierung wirft Deutschland die tagelange Blockade von Schutzmaterial für die Spitäler vor.
In Washington gilt der Defense Production Act aus dem Koreakrieg, durch den die Katastrophenschutzbehörde weitreichende Kompetenzen erhält. Kanada musste um Bestellungen aus den USA zittern. Hintergrund ist das von der Pandemie angerichtete Chaos. Die Gouverneure der Bundesstaaten konkurrieren um medizinische Ausrüstung auf dem freien Markt, weil die strategischen Reserven in einer für die Pandemie entscheidenden Woche erschöpft sind.
In New York errichtet eine kirchliche Hilfsorganisation Feldlazarette im Central Park. Im Stadtteil Queens stehen Kühlwägen für die vielen Toten vor dem größten Spital. Donald Trump hat die Wucht der Pandemie völlig unterschätzt, wie die meisten anderen Regierungen auch. Jetzt schwankt er zwischen Verharmlosung und höchstem Alarm. Zwischen 100 000 und 240 000 Opfer wird die Seuche fordern, lautet die Schätzung des US- Chefvirologen Antony Fauci. Das wären mehr Opfer, als es in den vergangenen Kriegen Gefallene gegeben hat. Die Modellzahlen sind schockierend, weil die USA ihre Gesamtbevölkerung von 327 Millionen im Blick haben.
Die Pandemie hat in den USA die politischen Gegensätze verschärft. Dass der Schutz der Volksgesundheit Vorrang vor der Wirtschaft hat, müssen eingefleischte Konservative erst verdauen. Während die Bundesstaaten New York und Kalifornien in Richtung Lockdown gingen, wollte der republikanischen Gouverneur von Florida den Tourismus nicht beschädigen. Tausende Jugendliche feierten an den Stränden. Erst Meldungen über die Gefährdung von Senioren führten zur Kurskorrektur. Wenn die Seuche da ist, kann keine Regierung so tun, als sei alles nur eine Grippewelle.
Die Pandemie stärkt weltweit die Exekutive. Die Bürger erwarten sich Schutz vom Staat. Dieser Mechanismus hilft auch Donald Trump. Die Zustimmung zu seiner Amtsführung wächst, sie liegt nur mehr knapp unter 50 Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen am 3.November wird Trump ein kompetitiver Bewerber sein.
So wie Europa pumpen die USA riesige Summen in die Wirtschaft. Die Demokraten haben eine verbesserte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Verlängerung der Arbeitslosenzahlungen durchgesetzt. Das Auffangnetz wird halten müssen. Die Ökonomen von Goldman Sachs befürchten, dass sich die Wirtschaft erst 2023 so weit erholen wird, dass die Arbeitslosigkeit von demnächst 20 Prozent wieder auf frühere Werte zurückgeht.
Das Corona-Lockdown beleuchtet skandalöse Seiten des Wirtschaftslebens. Kalifornien erlaubt den Landarbeitern im Agrarbusiness zu arbeiten, weil sie einen lebenswichtigen Job tun. Die meisten sind undokumentierte Zuwanderer, also illegale Ausländer, gegen die Donald Trump unentwegt hetzt. Ähnlich fliegt Österreich Seniorenbetreuerinnen aus Osteuropa ein, denen der Staat durch die Reduktion ihrer Kinderbeihilfe signalisiert, dass sie hier nicht wirklich erwünscht sind.
Wenn man die Erfahrung früherer Seuchen heranzieht, wird die Pandemie sich in verschiedenen Wellen über mehrere Jahre ziehen. Wie nach einem großen Krieg muss ein Wiederaufbau des politischen und wirtschaftlichen Lebens beginnen.
Dem israelischen Historiker Yuval Harari schwebt ein weltweites Netz von Gesundheitsarbeitern vor. Medizinische Betreuer sollten aus weniger betroffenen Staaten in Krisenregionen geschickt werden. Die Grenzschließungen müssen aufhören, damit Wissenschaftlern und Geschäftsleute reisen können. In früheren Extremsituationen haben die USA die multilaterale Koordination geleitet, schreibt Harari. Aber unter der Devise „America First“ fällt die Supermacht aus. Mit Wildwestmethoden, von welche Seite auch immer, wird die Welt noch häufiger konfrontiert sein.

 

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