Ganz Europa sollte Palästina als Staat anerkennen – um den Gaza-Krieg zu beenden

Mit einer gemeinsamen Willensäußerung könnte die EU dazu beitragen, Israelis und Palästinenser aus einer Konfrontation heraus zu holen, die beiden einen gerechten Frieden unmöglich macht

RAIMUND LÖWAUSLAND, FALTER 24/2024 VOM 11.06.2024

Auf den israelischen Jubel über die Befreiung der vier jugendlichen Geiseln folgt banges Warten. Das Schicksal der verbliebenen 120 Entführten hängt von einem Kompromiss mit der Hamas ab, den erstmals der UNO-Sicherheitsrat fordert. Beide Kriegsparteien ringen um eine klare Antwort. Die Chance, dass der Druck von außen dem Töten ein Ende bereitet, war noch nie so groß. Bei der Kommandoaktion letzte Woche gab es heftige Kämpfe. Diese Gewalt darf nach dem Spruch des UNO-Sicherheitsrates nicht weitergehen. Der belebte Markt des Flüchtlingslagers Nuseirat wurde bombardiert. Gazas Spitäler melden 270 Tote und hunderte Verletzte. Das UNO-Menschenrechtsbüro hält die Zahlen für richtig. Israel zählte 100 Getötete. EU-Außenpolitikchef Borrell sprach von einem Massaker. Die Bilder der glücklich vereinten Familien in Israel verdrängten die zerfetzten Körper in den Gängen der Spitäler von Gaza.about:blankANZEIGE

Im globalen Süden ist es umgekehrt, wie so oft. Als Ende Mai der Brand eines Zeltlagers nach einem israelischen Luftangriff unweit von Rafah Dutzende Opfer verursachte, waren die verkohlten Toten auf allen Fernsehschirmen der arabischen Welt zu sehen. Ein Bild hat sich ORF-Korrespondent Karim al-Gawhary besonders eingeprägt: ein verzweifelter Mann, der in all dem Chaos den Körper eines toten Kindes ohne Kopf in die Luft hält. Die grauenhaften Szenen wurden bei uns nicht gezeigt.

Bilder können den Verlauf von Kriegen beeinflussen. Das nackte Mädchen in Südvietnam, das sich die Kleider vom Leib riss, um einen Napalmangriff zu überleben, machte einst den Amerikanern bewusst, was es bedeutet, tausende Tonnen brennenden Treibstoffs abzuwerfen. Napalm traf nicht kommunistische Monster, sondern gequälte Menschen. In Gaza funktioniert noch die Entmenschlichung. Die Einwohner von Nuseirat, wo die Geiseln festgehalten wurden, sind an ihrem Schicksal selbst schuld, liest man in sozialen Medien. Das Pogrom der Hamas wird auf der anderen Seite als Widerstandsaktion verharmlost.

In den Fernsehnachrichten Israels kommen die Toten von Gaza kaum vor, beobachten die Korrespondenten des Wall Street Journal. Die Sender berichten über die Waffenstillstandsverhandlungen, über Israels Gefallene und neue Details zum 7. Oktober. Aber es gibt wenige Bilder der Opfer in Gaza. Die menschliche Katastrophe des Krieges wird in der westlichen Welt ausgeblendet. Wer sich der kollektiven Verdrängung entziehen will, muss „Democracy Now!“ der US-Journalistin Amy Goodman oder, ja, bei gebührender Distanz, Al Jazeera einschalten.

Die israelischen Streitkräfte greifen seit Monaten Schulen, Spitäler, Moscheen und Wohnhäuser an. Man ignoriert, dass Geiseln zumeist durch Verhandlungen frei gekommen sind. Terroristen sind das Ziel, sagen die Militärsprecher. Aber zehntausende Zivilisten sind tot, tausende wurden zu Invaliden, vielen Kindern mussten Arme oder Beine amputiert werden. Aus dem Reflex der Selbstverteidigung wurde ein Krieg gegen die Palästinenser. Die Lebensgrundlagen von zwei Millionen Menschen sind zerstört. Die Auslöschung der Hamas scheint trotzdem unmöglich. Kaum ziehen die Besatzer aus den Trümmerfeldern ab, kehren mit den Bewohnern auch die bewaffneten Gruppen zurück.

Acht Monate Krieg haben den israelisch-palästinensischen Konflikt in beispielloser Weise verschärft. Mohammed Deif und Yaya Sinwar, die Hamas-Anführer in Gaza, bekommen Applaus aus Teheran. Ihrem Volk können sie nur Tod und Verderben anbieten. Netanjahus rechtsextreme Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir propagieren die Vertreibung der Palästinenser. Die Kriegsführung in Gaza und die Repression in der Westbank schaffen den Boden für ethnische Säuberungen.

Die Kriegstreiber zeigen jeden Tag, dass sie ihre Völker ins Unglück stürzen.

In dieser dramatischen Situation versuchen Irland, Spanien, Norwegen und Slowenien, mit der Anerkennung Palästinas diplomatische Barrieren aufzustellen. Madrid wird sich der Völkermordklage Südafrikas beim Internationalen Gerichtshof anschließen. Das Völkerrecht ist ein Opfer des Krieges. Die wiederholte Anweisung des Internationalen Gerichtshofs, die Offensive auf Rafah zu unterlassen, hat man in Jerusalem ignoriert.

Mit einer gemeinsamen Anerkennung Palästinas könnten die Europäer den Druck des UNO-Sicherheitsrates verstärken und dazu beitragen, die beiden Völker aus einer Konfrontation herauszuholen, der einen gerechten Frieden unmöglich macht.

Dass Staaten wie Deutschland und Österreich glauben, sie müssen sich wegen der Erinnerung an die Shoah zurückhalten, ist nicht verständlich.

Geiseln und Gefangene

Nur sieben der 250 am 7. Oktober 2023 entführten Geiseln wurden bisher militärisch befreit. 30 kamen im Tausch für hunderte palästinensische Gefangene frei, die zum Teil ohne Gerichtsverfahren festgehalten wurden. Von den verbliebenen 120 verschleppten Israelis sind Dutzende umgekommen

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