Europas Impfwurstelei, die USA und wir, Falter Maily 22.3.2021

Impfungen sind der entscheidende Hebel, um die Corona-Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Der Epidemiologe Robert Zangerle formuliert heute in Armin Thurnhers Seuchenkolumne klarsichtig: Politisch gibt es in der Pandemie-Krise nur noch eine Währung: die Geschwindigkeit der Impfung. Aber Europa hinkt nach. Die Nachrichtenagentur Bloomberg bietet einen globalen Vaccine Tracker an. Danach sind in der EU 3,7 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft, in den USA 12,6 Prozent. Sogar Chile oder Marokko liegen deutlich über den europäischen Werten.

Die USA haben ein schlechteres Gesundheitssystem als wir und hatten im letzten Jahr Donald Trump als Präsident. Aber bei den Corona-Impfungen sind die Amerikaner den Europäern weit voraus. Die dritte Welle der Infektionen bricht über einen Kontinent herein, in dem viel zu wenig Menschen durch Impfungen geschützt sind.

Was Österreichs Regierung heute verkündet, vermittelt den Eindruck der Hilflosigkeit. Es gibt dramatisch mehr Infektionen als im Nachbarland Deutschland, die Verantwortlichen der heimischen Intensivstationen sind alarmiert. Aber die Regierungsspitze schafft gerade die Devise „Keine Schließungen, keine Öffnungen“. Mehr regionale Differenzierung und mehr Testungen, um eventuelle Öffnungen nach Ostern dort zu ermöglichen, wo die Lage auf den Intensivstationen stabil und die Durchimpfungsquote der über 50-Jährigen hoch genug ist. Doch wo wird sie das sein?

Der Nobelpreisträger und Kolumnist Paul Krugman diagnostiziert für Europa in der New York Times ein Impfdebakel, und das bedeute: „The European project is in deep trouble.“ Das Debakel zeige, dass die Europäische Union eben doch kein echter Staat sei, was sie allerdings auch nie behauptet hat. Krugman hatte seinerzeit dem Euro keine lange Lebenszeit prophezeit. Zu Unrecht. In der Finanzkrise prangerte er die destruktive Sparpolitik der EU an. Zu Recht. Aber es stimmt, dass sich in Pandemien (so wie auch in Kriegen) Stärken und Schwächen eines politischen Gebildes manifestieren.

Untergangsstimmung für Europa ist übertrieben. Wenn die 27 Impfpläne der Union mit den gemeinsam besorgten Vakzinen bis zum Sommer greifen, kann sich die Stimmung drehen. Aber Gründe zur kritischen Zwischenbilanz gibt es genug.

Nach den Ausritten von Kanzler Kurz gegen die angeblich ungerechte Aufteilung von Impfstoffen diskutiert auch Österreich, wo die Hürden für den raschen Impfschutz in Europa liegen. Die Geschichte von geheimen Beschlüssen unbotmäßiger Beamter à la Clemens Martin Auer, dem Sonderbeauftragten im Gesundheitsministerium, bedient europaskeptische Klischees, verdeckt aber das größte reale Manko, das Sebastian Kurz wohlweislich auslässt, weil er es selbst beschlossen hat: Jeder Mitgliedsstaat bestimmt für sich seine Vorgangsweise.

Die Folge ist kontinentale Ineffizienz bei einer Infektion, die alle trifft. Eine europäische Impfstrategie gibt es nicht. Ein „national vaccination plan“ wie in den USA, mit dem die Regierung Biden die Bundesstaaten auf Trab hält, ist auf EU-Ebene undenkbar. Gesundheitspolitik bleibt Kompetenz der Nationalstaaten. Höchstens können Österreich, Bulgarien und andere, die es verpasst haben, ausreichend Vakzine zu bestellen, für nachträgliche Korrekturen auf Flexibilität der Partner setzen.

Den amerikanischen Medien fallen bei den Vergleichen der Impferfahrungen auf beiden Seiten des Atlantiks mehrere Punkte auf: das komplizierte Prozedere mit 27 Vorstellungen der Mitgliedsstaaten von Haftung bei Nebenwirkungen, 27 Limits im Budget, Misstrauen gegenüber den Pharmaunternehmen und die allgemeine Sparideologie. Daher die Verzögerungen.

Not equipped for a gunfight“, spottet ein Experte des German Marshall Funds über Langsamkeit der EU in der Pandemie. Gunfights dieser Art könnte es in Zukunft noch öfters geben. Covid-19 wird wohl kaum völlig verschwinden. Niemand weiß, wann die nächste Pandemie kommt. Eine kontinentale Gesundheitspolitik mit finanziellen Mitteln und raschen Entscheidungen wäre die Alternative zur misslichen aktuellen Lage. Kann sich irgendjemand ernsthaft vorstellen, dass ein digitaler Impfpass europaweit funktioniert, ohne dass Brüssel die Kompetenzen hat, die Sache auch gegen lokale Sonderinteressen durchzusetzen?

Um das Lockdown-Chaos unseres Kontinents herunter zu fahren, brauchen wir halt einiges mehr an Europa, auch wenn der Zeitgeist das nicht so recht wahrhaben will, meintIhr Raimund Löw

Ihr Raimund Löw

corona-1

Wo die Pandemie die Welt besser gemacht hat, untersucht das amerikanische Magazin ‚The Atlantic‘: 1) das Know-how für Impfungen ist sprunghaft angestiegen; 2) dank Zoom verstehen wir jetzt den Wert einer ordentlichen Digitalisierung, 3) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vernetzen sich international mehr denn je.

corona-2

90 Prozent der weltweit bisher 400 Millionen Impfdosen wurden in reichen und mittelreichen Staaten verabreicht. Die Mehrheit der 8 Milliarden Erdbewohner wird noch viele Jahre auf eine Covid-19-Impfung warten müssen, rechnet die New York Times vor. Die Differenz erschwert es, eine globale Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Europa und die USA haben das Bestreben der Weltgesundheitsorganisation WHO bisher blockiert, Patentrechte für Corona-Impfungen freizugeben.

podcast

Menschenrechtsverletzung vor unserer Haustüre – SOS Balkanroute. Der Aktivist Hasan Ulukisa zeichnet im Falter Podcastein dramatisches Bild der Situation von Flüchtlingen in bosnischen Lagern und Wäldern. Das Gespräch mit Nina Horaczek wurde im Bruno Kreisky Forum aufgenommen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*