Erdbeben und politische Erschütterungen

 Die Erdstöße des 6.Februar im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind eine Menschheitskatastrophe. Die Verwüstungen treffen eine Region, die von Bürgerkrieg,  Misswirtschaft und scharfen politischen Gegensätzen geprägt ist. Zur Verzweiflung der Überlebenden kommt die Wut über das Versagen des türkischen Staates, die Ignoranz des syrischen Regimes und die Ohnmacht der Vereinten Nationen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan führt vor bevorstehenden Wahlen die Entscheidungsschlacht um seine Macht. Er trägt nach zwei Jahrzehnten die Verantwortung für den Zustand des Staates. Die Konsequenzen, die die türkische Gesellschaft aus dem Trauma zieht, wird die Zukunft des Landes prägen.

   In Nordsyrien haben die Erdstöße in wenigen Minuten mehr zerstört als der Bürgerkrieg in zehn Jahren. Millionen sind obdachlos. Die kleine Hilfsorganisation der Weißen Helme, die sonst nach den Opfern von Luftangriffen suchen,  ist beim Katastropheneinsatz  auf sich allein gestellt. Viele Spitäler sind zerstört, die russische Luftwaffe hatte sie  bombardiert. Die Vereinten Nationen haben tagelang gezögert, sich über die von Damaskus ausgehende Blockade des Rebellengebiets um Idlib hinweg zu setzen.

 In der Katastrophe hat die Zivilgesellschaft in der Türkei ihre Stärke bewiesen. Freiwillige Helfer aus allen Teilen des Landes machten sich in das zerstörte Gebiet auf. Die Städte Ankara und Istanbul schickten die Feuerwehr und schweres Gerät. Hotels öffnen ihre Türen für die Obdachlosen. Private Initiativen füllen  Lücken, die entstanden sind, als die Regierung kurdische Bürgermeister in den letzten Jahren inhaftiert hat.

  Bei seinen erste Besuchen in der schwer getroffenen Region verzichtete Präsident Erdogan auf das übliche Machogehabe. Sogar die Bodyguards wirkten schockiert. Warum Regierung das Militär mit seinen Hubschraubern und Drohnen so wenig zum Einsatz gebracht hat, um in verschüttete Dörfer zu gelangen, ist unklar.

   Bei so viel Leid tut Europa gut daran, die berechtigten Vorwürfe hintan zu stellen, die sich zuletzt gegenüber der Regierung Erdogan aufgebaut haben. In Katastrophensituation erschwert Kritik von außen eine Verarbeitung. Aus den mit der Türkei verfeindeten Nachbarn Griechenland und Armenien, aus Israel und Europa, kamen Helfer, die Dutzende Überlebende retten konnten. Internationale Solidarität in großer Not ist ein Zeichen, was auch  zwischen verfeindeten Staaten möglich ist.

 Im Land selbst hat die  Auseinandersetzung um die Mitverantwortung der Regierung mit voller Wucht  eingesetzt. Die  Opposition prangert die Ineffizienz des staatlichen Katastrophendienstes an. Aus der linken Kurdenpartei HDP heißt es, die Regierung erschwert gezielt Hilfe aus der Zivilgesellschaft.

 1999 hatte ein schweres Erdbeben Izmit 100 Kilometer östlich der Metropole Istanbul getroffen. Auf die seismologische und ökonomische Erschütterungen folgte der politische Umsturz.  Erdogans damals proeuropäische islamistische AKP kam an die Macht. Der Präsident inszenierte sich  bald als großer Freund der Baulöwen. Kritiker prangen die Verbindung der korrupten Regierungspartei mit Baufirmen an, die Bauvorschriften nicht ernst genommen haben. Jetzt gibt es Verhaftungen. Es sind Bauernopfer, kritisiert die Opposition.

  Naturkatastrophen enthüllen Stärken und Schwächen einer Gesellschaft.

  2008 forderte ein Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan fast 70000 Tote. Tausende Kinder sind während des Unterrichts  umgekommen, weil schlecht gebaute Schulen eingestürzt sind. Die Wohnhäuser daneben blieben intakt. Bauunternehmen hatten gemeinsam mit korrupten Parteifunktionären bei Schulen schlechtes Baumaterial verwendet. Der Gewinn floss in die Taschen von Politik und Mafia.

  Erst als der weltbekannte Künstler Ai Weiwei im Internet die lange Liste der Toten veröffentlichte, gab Peking zu, dass 5335 Kinder in ihren Schulen umgekommen sind. Aktivisten, die Aufklärung verlangt haben, wurden jahrelang verfolgt. Das Desaster zu vertuschen, wie in der maoistischen Vergangenheit, war  unmöglich. Peking ließ Helfer aus Japan und anderen Staaten ins Land und rief die Bürger zu Spenden auf. Parteigewaltige aus Sichuan kamen vor Gericht. Ai Weiwei wurde aus dem Land vertrieben.

  Beim Erdbeben vor 15 Jahren konnte sich in Asien der chinesische Einparteienstaat mit Flexibilität und Härte durchsetzen. Das Ausmaß der Erschütterungen heute für die Türkei und  Syrien ist unkalkulierbarer, genauso wie die Auswirkungen für Europa. 

ZUSATZINFOS

Fragen an Ankara

3 Monate Ausnahmezustand in 10 Provinzen der Türkei bedeuten, dass der Wahltermin im Mai gefährdet sein könnte. 18000 Gendarmen und 10000 Polizisten wurde mobilisiert. Das Militär war nicht zu sehen. Oppositionschef Kilicdaroglu  will wissen, wohin die Sondermittel für die Erdbebenvorsorge geflossen sind.

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