Der ukrainische Vormarsch, Maily 16.9.2022

Der Vormarsch des ukrainischen Militärs in den von Russland besetzten Gebieten hat sich nach Einschätzung von Militärexperten verlangsamt. Aber der Krieg ist  in eine neue Phase eingetreten.   

 Der Rückzug zeigt, in welchem deplorablen Zustand die russischen Streitkräfte sind, wundert sich Generalleutnant Christian Segur-Cabanac, der als ehemaliger Generalstabsoffizier die militärische Lage verfolgt.  In Kiew feiert man den unerwarteten Erfolg als Wendepunkt. Für eine seriöse Beurteilung ist es allerdings noch zu früh, urteilt Segur-Cabanac.

 Es ist jedoch eindeutig der größte militärische Rückschlag für Russland seit dem gescheiterten Angriff auf Kiew.

 Aber auch politisch kommt einiges in Bewegung.  Putin musste gestern nach einem Treffen in Usbekistan zugeben, dass sein engster Verbündeter China Fragen und Sorgen („questions and concerns“ laut Übersetzung internationaler Agenturen)  zur russischen Kriegsstrategie äußert.  Trotz des angeblich ewigen Bündnisses zwischen Peking und Moskau. Wenn man weiß, wie Diplomatie auf dieser obersten Ebene funktioniert, ist das ein erstaunliches Eingeständnis von Meinungsverschiedenheiten. Xi selbst hat zur Sicherheit das Wort Ukraine gar nicht in den Mund genommen. China behauptet, dass es die ukrainische Souveränität anerkennt, will aber gleichzeitig Putin die Stange halten. Ein unglaubwürdiger Eiertanz.  

Wenige Tage zuvor hat der deutsche Bundeskanzler Scholz in einem ausführlichen Telefonat mit Putin die russische Führung zu einem Rückzug und der Beendigung des Krieges aufgefordert. Macron hat ebenfalls mit Putin telefoniert. Die Türe zu Verhandlungen wäre offen, lautet die Botschaft, wenn Russland nur bereit wäre seinen Aggressionskrieg zu stoppen.

  Die deutsche Initiative hat einen beunruhigenden Hintergrund: in europäischen Sicherheitskreisen nimmt man an, dass  in der russischen militärischen Führung die Befürworter einer  dramatischen Ausweitung der Kriegsführung lauter werden, um die Schmach der Rückschläge auszugleichen. Die Sorge vor einer massiven Ausweitung von Angriffen gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine wächst. Scholz und Macron wollen den Gesprächsfaden zum Kreml nicht völlig abreißen lassen, um eine solche fatale Eskalation möglichst zu verhindern.

 Gleichzeitig ist die in Deutschland und auch in Österreich weit verbreitete Meinung, dass es nicht möglich sein wird die russischen Aggressoren militärisch zurückzuwerfen, erschüttert. Die Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine bekommt damit eine neue Wendung. Der pazifistischen Argumentation, dass zusätzliche Waffen den Krieg nur verlängern, hält die Regierung in Kiew entgegen, dass im Gegenteil modernes Kriegsgerät für die Verteidiger zur rascheren Befreiung der besetzten Gebietes führen würde.

 Es ist leider nicht zu erwarten, dass Russland nach einer zweiten Niederlage (die erste war die erzwungene Aufgabe der Belagerung Kiews) in diesem Krieg am Ende ist. Der ehemalige Bundesheer-Brigadier Walter Feichtinger erwartet eine schlimme Eskalation von russischer Seite. Wahrscheinlich hat er recht.

Aber  rund um die militärischen Rückschläge hat sich  in Russland Unsicherheit ausbreitet. Die Europäer könnten die Situation nützen, indem sie sich direkt an das russische Volk wenden.  Der Rückzug von den besetzten Gebieten, das sollte man wiederholen, würde die Sanktionen beenden. Alle Reisemöglichkeiten für russische Staatsbürger würden wieder hergestellt. Es muss klar sein, dass ein Russland, das seinen Aggressionen abschwört, als Nachbar mit offenen Armen empfangen werden wird. Gegen die  Zensur in den russischen Medien sollten die Europäer endlich großflächig russischsprachige Medien hochfahren. Ein mächtiger von der EU finanzierter russischer Sender mit Radio, TV und Internet, journalistisch unabhängig aber von der EU finanziert, könnte auf die Dauer genauso wirksam sein, wie die ebenfalls nötigen Waffen für die Verteidiger, nur würde er weniger kosten.

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