Der Ukrainekrieg – ein koreanisches Szenario?

 Der Ukrainekrieg legt offen, dass eine neue Zeit  der Konfrontation zwischen den Machtblöcken der Welt begonnen hat. Das Schlachtfeld ist seit dem 24.Februar wieder Europa, wie im  vergangenen Jahrhundert. Unter Vladimir Putin ist  Russlands neuer Imperialismus die treibende Kraft einer Auseinandersetzung, die in ihrer Bedeutung über den alten Kontinent hinausreicht. Aufmerksam verfolgt Chinas Alleinherrscher Xi Jinping Stärken und Schwächen der Kriegsparteien, um Schlüsse für die eigenen globalen Ambitionen zu ziehen. Indien hält sich heraus. Südkorea, das vor 70 Jahren selbst einen vom Norden provozierten Zerstörungskrieg durchgemacht hat, erlebt die 30 000 US-Soldaten im Land als ultimative Sicherheitsgarantie.

 Es ist ein riesiges Glück,  dass in der Extremsituation der Präsident der Vereinigten Staaten Joe Biden heißt. Die USA hatten eindringlich vor dem russischen Angriff gewarnt. Anders als vor dem Irakkrieg vor 20 Jahren sagte der CIA die Wahrheit. Die Strategie sollte abschreckend wirken. Die USA sind die erste Wirtschaftsmacht des Globus und nach den unsicheren Trump-Jahren wieder Führungsmacht des Westens. Die verheerenden Auswirkungen des Angriffskriegs für die russische Wirtschaft sind ein Resultat amerikanisch-europäischer Zusammenarbeit. Putins Überfall verhindern konnte die Supermacht nicht. Ein Eingreifen der USA an der Seite der ukrainischen Verteidiger, wie das einige republikanische Kongressabgeordnete verlangen, schließt das Weiße Haus aus. Das Gleichgewicht des Schreckens aus der Zeit des Kalten Krieges verbietet eine direkte Konfrontation zwischen russischen und amerikanischen Soldaten.

 Die Besonnenheit Amerikas hat ihren Preis. Der verzweifelte Aufruf des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij, dass die NATO die Ukraine zur Flugverbotszone erklären soll, gehen ins Leere. Für ihren Freiheitskampf erhält die Ukraine aus dem Westen Kriegsgüter. Aus dem Budget der Europäischen Union werden hunderte Millionen Euro  für den ukrainischen Kampf zur Verfügung gestellt. Ein einmaliger Vorgang. Die in den 1930er-Jahren um ihr Überleben gegen die Faschisten kämpfende Spanische Republik war von den Demokratien völlig alleine gelassen worden. Diese Schande wiederholt sich nicht. Aber was  spät gelieferte europäische Panzerabwehrraketen und andere Waffen ausrichten können ist unklar. Die Ukraine bleibt die unterlegene Partei. Militärisch wird die Übermacht Russlands nicht zu brechen sein. 

  Es ist eine großrussische Lüge Putins, dass die Ukrainer keine Nation sind. Als die Völker der Sowjetrepubliken 1989 erwachten, hat sich die ukrainische Volksfront mit dem Namen Ruch  in die Freiheitsbewegungen der Balten, Armenier, Georgier und damals auch der Weißrussen eingereiht. Kiew war wie Jerewan, Tiflis oder Tallin ein bunter Ort des Protests gegen die UdSSR. Die Erinnerung an den Holodomor, die von Stalin erzwungene Hungersnot mit Millionen Toten, wurde wach. Es folgte die orangene Revolution gegen Wahlfälschungen  2004 und den Euromaidan 2014, als Russland die Bindung an Europa verhindern wollte. In der Geschichte war die ukrainische Staatlichkeit nur ein kurzlebiges Zwischenspiel. Die moderne Ukraine hat  die eigene russische Volksgruppe viel zu wenig in die Staatsbindung eingebunden. Das hat jetzt Wladimir Putin geschafft. Die  russischen Bomben auf die Städte der Ukraine besiegelt endgültig die Trennung vom großen Bruder. Die Stadt Charkiw könnte bald  aussehen wie Grozny, wo nach dem Tschetschenienkrieg kein einziges Haus mehr unversehrt war. Spätestens jetzt sind die russischsprachigen Bewohner patriotische Ukrainer geworden.  Präsident Selenskij ist die Symbolfigur der neuen Nation, ein ukrainischer Präsident jüdischer Abstammung  mit russischer Muttersprache, der im belagerten Kiew den Beitritt in die Europäische Union verlangt.

Die EU hat gegen den russischen Angriffskrieg mehr Substanz gezeigt, als das Skeptiker erwartet haben.   In der Eurokrise 2010 hatten die Europäer  die Angriffe auf den Euro durch Schutzschirme und Rettungsfonds abgewehrt. In der Pandemie wurden 2021 hunderte Milliarden  aufgenommen, um einen wirtschaftlichen Zerfall in Nord und Süd  zu vermeiden. Die von einem Außenfeind Putin ausgehende Gefahr verschränkt 2022 die  Sicherheitspolitik der Europäische Union und die NATO. Ob die EU zur Militärunion mit einer Europäischen Armee wird bleibt offen. Aber die Solidarität mit dem Verteidigungskampf der Ukraine gegen Putins Aggression lässt die Europäer zusammenrücken.  Schlagartig sind die Differenzen mit Polen und Ungarn in der Flüchtlingspolitik und der Rechtsstaatlichkeit in den Hintergrund getreten.

 Russland war international noch nie so isoliert. In der UNO-Generalversammlung hielte Moskau nur Nordkorea, Syrien, Eritrea und Belarus  die Stange. Kuba, Venezuela und sogar Kasachstan, wo erst vor wenigen Wochen russische Spezialeinheiten den lokalen  Diktator Toqajew vor einem Volksaufstand gerettet haben, enthielten sich verschämt der Stimme. Besonders schmerzlich ist für den Kreml die Zurückhaltung Chinas. In den Vereinten Nationen enthalten sich die chinesischen Vertreter der Stimme. Vor den Olympischen Spielen besiegelten die Präsidenten Putin und Xi Jinping einen Freundschaftspakt für ewige Zeiten, um die vom Westen geprägte Weltordnung herauszufordern. Die Tinte war nicht trocken, da muss Peking Distanz zum ersten Zug des Partners im Kampf um die Vorherrschaft signalisieren. China will seine Macht vor allem durch wirtschaftliche Eroberungen ausweiten. Handelskriege und Finanzkrisen, wie sie jetzt unvermeidlich sind, sind dem chinesischen Politbüro ein Horror. Die verlogene Diktion des Bündnispartner von einer militärischen Spezialoperation, die kein Krieg sein, wird in Peking allerdings übernommen.

Zur Isolation Russlands in der Welt kommt die Isolation Wladimir Putins im Kreml. Der Präsident entscheidet alleine, das signalisieren die Inszenierungen mit  Militärs, Geheimdienstleuten und Sicherheitsberatern auf meterlanger Distanz. Es sind Putins Tote, die der Kreml jetzt zugeben muss. Es sind Putins Ruinen in Charkiw, Mariupol und Kiew, die die Welt sieht. Die Situation ist  anders als beim Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in der CSSR 1968 und in Ungarn 1956.  Die verhängnisvollen Entscheidungen fällte damals das Kollektivorgan Politbüro der Kommunistischen Partei. Eine vergleichbare Institution fehlt heute in der Russischen Föderation. Putin ist Alleinherrscher.

  Seine Radikalisierung gegen den Westen und gegen die Ukraine ist in der von der Pandemie verschärften Einsamkeit des Präsidenten passiert. Ideologisch bewegt er sich in den großrussischen Mythen der Vergangenheit. Daher die scharfe Distanzierung von Lenin, der mit  großrussischen Vorurteilen in der jungen Sowjetunion haderte. Weder die russischen Eliten noch die Bürger haben diese politische Entwicklung Putins mitgemacht. Daher sitzt der Schock über den grundlos vom Zaun gebrochenen Krieg in der russischen Gesellschaft so tief. In Putins großrussischer Ideenwelt haben die Ukrainer immer zu Russland gehört. Dass man sie jetzt in die Bruderschaft bombardiert, ist eine Erzählung, die auch mit den Lügen von der angeblich nötigen Entnazifizierung nicht zu begründen ist.

  Die Isolation Russlands in der Welt und die Einsamkeit Putins im Kreml drohen die Eskalation zu verschärfen.  Immer wieder verweist der Präsident auf die 6000 Atomwaffen seines Landes. Außenminister Lawrow schlägt in die gleiche Kerbe. Die erhöhte Alarmbereitschaft der strategischen Atomwaffen ist noch immer in Kraft. Für die Molotowcocktails  einer ukrainischen Stadtguerilla sind Atomwaffen ungeeignet, nicht jedoch um die benachbarten NATO-Staaten zu terrorisieren. Es ist kein Zufall, dass russische Streitkräfte in Saporischschja auf das größte Kernkraftwerk Europas geschossen haben.  Die russische Führung lässt sich alle Optionen offen, um auf Rückschläge im Feld mit weiteren Eskalationsschritten zu reagieren.

  Putin befolgt die Madman Theory, wonach ein Staatsführer, der so tut, als wäre er verrückt, vom Gegner Konzessionen erzwingen kann. Egal wie viel  Kontakt zur Realität er verloren hat. Im Indochinakrieg hat Richard Nixon geglaubt, dass er die  Nordvietnamesen zum Nachgeben bewegen kann, indem er irrational auftritt und  Hanoi mit Atomkrieg droht. Donald Trump verfolgte die Taktik im Raketenstreit mit Nordkorea, bevor er Kim Il sung zum großen Freund erklärte.  Wozu der isolierte Putin  fähig ist, dem der erhoffte rasche Sieg entgleitet,  wagt im Ukrainekrieg niemand zu spekulieren.

  Der russische Präsident könnte natürlich einen Waffenstillstand aus humanitären Gründen verkünden. Sein eigenes Land würde aufatmen. Aber der ukrainischen Widerstandskräfte könnten sich sammeln. Ein Waffenstillstand bei dem der Unterlegene überlebt und nicht kapituliert ist für die überlegene Kriegspartei eine zweischneidige Angelegenheit. Israel erlebt diesen Mechanismus nach jedem Bombenhagel auf Gaza, bei dem sich die Palästinenser trotz aller Zerstörungen in ihrer Stadt als Sieger präsentieren. Der Kreml fordert die totale Unterwerfung. Aber es ist schwer vorstellbar ist, wie eine Marionettenregierung samt  Besatzung für ein Riesenland mit 44 Millionen Einwohnern funktionieren soll.

  Die Bürger, die in Russland Nein zum Krieg sagen, sind die Hoffnungsträger der ganzen Welt. Aus dem Gefängnis ruft Alexej Nawalny zu Protesten auf. Der russische Antikorruptionskämpfer und der ukrainische Präsident sind die Symbole der Menschenwürde in der Katastrophe.  Bei allen Sanktionen, die der Westen verhängt, soll nicht die russische Gesellschaft der Feind sein, so heißt es. Russenhass wäre eine verhängnisvolle Fehlentwicklung.

 Palastrevolutionen mitten in einem Krieg, der noch nicht verloren ist, sind in der Geschichte selten. Gibt es im Kreml keinen Coup gegen Putin  wird die Russische Föderation zu einer Art großes Nordkorea. Mit Kriegsrecht, ohne Kontakte zum Ausland, mit einer Zivilgesellschaft im Gefängnis, Außenhandel ausschließlich in Richtung China und Internetzensur nach chinesischem Vorbild.  Der Weltpolitik bringt die Abschottung einen neuen Kalten Krieg, in dem Russland versucht mit  China gegen die USA und Europa mobilisieren.

Die weitverbreitete Vorstellung ist falsch, dass der alte Kalte Krieg durchgehend Stabilität gebracht hat. An der Peripherie tobten furchtbare Kriege. In Griechenland kämpften bis 1949 kommunistische Partisanen gegen proamerikanische Konservative und Monarchisten. Den Vietnamkrieg begründeten die USA mit der globalen Auseinandersetzung gegen den Kommunismus.  Der Koreakrieg führte zu einem  Blutzoll, der an die Dimensionen des Zweiten Weltkrieges reichte. US-Präsident Truman musste seinen Oberbefehlshaber MacArthur daran hindern Atomwaffen gegen China einzusetzen. Der Ukrainekrieg macht Osteuropa zum heißen Schlachtfeld des neuen Kalten Krieges. Wenn es nach dem Szenario des Koreakrieges geht werden Putins Truppen an einer Demarkationslinie zwischen der Westukraine und Ostukraine am Dnepr halt machen oder direkt an den Außengrenzen der Europäischen Union.

Erinnern wir uns: auch nach der Unterzeichnung des koreanischen Waffenstillstands von Panmunjon 1953 war die Grenze zwischen den beiden Koreas  alles andere als stabil. Selbst wenn es auch in der Ukraine  zu einer Demarkationslinie kommt, kann der Konflikt weiter gehen.  Jahrelang ließ Kim Il sung  Saboteure und Angreifer in den Süden schleusen. Die nordkoreanischen Tunnels reichten bis in die Außenbezirke von Seoul. Scharmützel kosteten hunderten Menschen das Leben. Putin versucht die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten als fünfte Kolonne zu mobilisieren. Seinem Weltbild nach hat Russland Zugriff auf alle Regionen, in denen russisch gesprochen und gedacht wird. Hybride Angriffe auf NATO-Staaten mit russischen Minderheiten hat es bereits gegeben. Nach Millionen Toten war die Grenzlinie zwischen Nordkorea und Südkorea genau dort gebieben, wo sie zu Beginn gewesen war: am 38.Breitegrad, wo sie auch heute noch liegt. 300 000 amerikanischen Soldaten in Südkorea und ein bis auf die Zähne bewaffnetes Nordkorea stehen einander gegenüber. Das Grenzregime in Osteuropa könnte ähnlich aussehen.

  Der neue Kalte Krieg wird unter ideologisch unter veränderten Parametern laufen. Das sowjetische Imperium war mit sozialistischen Zielsetzungen garniert. Im Systemkonflikt profitierte die Arbeiterschaft des Westens vom Kommunismus des Ostens. Der Sozialstaat in Italien, Frankreich und Westdeutschland war eine Antwort auf den sogenannten real existierenden Sozialismus. Putins autoritärer Nationalismus ist dagegen  ein Vorbild für Rechtsextreme von Donald Trump bis Marine Le Pen. Die Aufrüstung des neuen Kalten Krieges wird den Wohlfahrtsstaat belasten, soziale Spannungen werden die Folge sein. 

 Die prorussischen Rechtsaußenparteien befinden sich  im Erklärungsnotstand gegenüber dem Angriff ihres Vorbilds. Man soll sich aber keine Illusionen machen. Wenn sich einmal neue Grenzen festigen, wird der Ideologieexport wieder einsetzen. Der Antiamerikanismus ist höchst lebendig. Wer den mörderischen russischen Revanchismus heute mit der von den Osteuropäern heiß ersehnten NATO-Erweiterung vor einem Viertel Jahrhundert gleichsetzt, bei der tatsächlich wenig Rücksicht auf Moskau genommen wurde,  tappt in diese Falle. Die Erzählung von der Überlegenheit eines ethnisch reinen und  autoritären Führersystems gegenüber der multikulturellen und pluralistischen Demokratie, die  sich angeblich im Niedergang befindet, wird wieder lauter werden. Die  Putin-Versteher  an den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums  in Europa und den USA werden nicht verschwinden.

  Die EU-Regierungen glauben, dass sie durch das Verbot von Russia Today dem Einfluss des Kreml auf die Köpfe einen Riegel vorschieben können. Die Ausschaltung von feindlichen Ideen ist im alten Kalten Krieg daneben gegangen. In der BRD hatte der Staat geglaubt, er muss mit Berufsverboten gegen eine kommunistische Unterwanderung vorgehen. Der Attraktivität kryptostalinistischer Ideen in Teilen der Studentenbewegung 1968 hat der offizielle Antikommunismus keinen Abbruch getan. Den Putinschen Medien heute glaube nicht einmal die Sympathisanten seines Regimes. Es wäre klüger der Propaganda mit Fakten und freiem Denken entgegen zu treten, als mit Verboten.

  Der deutsche Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck zitiert zum Ukrainekrieg die Bemerkung des italienischen Philosophen Antonio Gramsci, wonach es  zu den morbiden Symptomen einer Zeit des Interregnums gehört, dass mächtige Staaten ihre Zukunft den Unsicherheiten der Schlachtfelder überantworten. Das Interregnum ist eine Situation, in der das Alte stirbt und das Neue noch nicht auf der Welt ist. Gramsci saß in Mussolinis Gefängnissen und vertraute auf die Perspektive eines humanistischen Kommunismus. Die Utopie hat im 20.Jahrhundert in die Irre geführt. Geburtsstunde einer neuen Welt ist keine in Sicht. Die liberalen Demokratien sind in der Defensive. Putin begründet die Panzer und Raketen, die die Ukraine zerstören, mit den Zielen eines Roll Back der demokratischen Errungenschaften von 1989.   Der aktuelle militärische Widerstand gegen Putins Angriff muss sich mit dem politischen Programm der Weiterentwicklung der europäischen Demokratie verbinden, in dem sich auch Russen und Ukrainer wiederfinden können, um  eine Chance zum Erfolg zu haben.

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