Der Europäische Gerichtshof hat Polen zu Strafzahlungen in Millionenhöhe verurteilt. Eine Million pro Tag beträgt das Bußgeld, weil die nationalkonservative Regierung die polnische Justiz mit Hilfe einer Disziplinarkammer kontrollieren will. Eine weitere halbe Million muss Polen täglich zahlen, weil der Braunkohleabbau im Grenzgebiet zu Deutschland Umweltregeln verletzt. Es ist das erste Mal, dass die europäischen Richter mit solcher Härte gegen einen Mitgliedsstaat vorgehen. Die polnischen Führung tobt und will sich gegen das angebliche Diktat aus Brüssel wehren. Der seit langem schwelende Konflikt zwischen der autoritären Partei für Recht und Gerechtigkeit PiS, die mit kleineren Rechtsparteien in Warschau an der Macht ist, und dem Mainstream der Europäischen Union treibt einem Höhepunkt zu.
Angela Merkel und Frankreichs Emmanuel Macron wollten einen offenen Clash vermeiden. PiS-Gründer Jaroslaw Kaczynski lebt in einer ultrakatholischen Traumwelt und ist gesundheitlich angeschlagen. In Berlin und Paris fürchtet man irreparable Schäden, wenn der antiwestliche Nationalismus in Polen aufgepeitscht wird. Die EU-Höchstrichter ließen sich von politischen Rücksichtsnahmen nicht beeindrucken. Sie begründen ihr Urteil mit der Gefahr, dass die gesamte Union ins Rutschen kommt, wenn sie akzeptiert, dass sich ein Mitgliedsstaat offen den obersten Richter widersetzt.
Zum Rechtsstreit kommt ein Aufschaukeln verbale Feindseligkeit, wie man es in Europa selten hört. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki schimpft, dass Brüssel durch die Zurückhaltung von Geldern einen dritten Weltkrieg starten könnte. Eine groteske Übertreibung, die inzwischen auch polnischen Konservativen peinlich ist. Belgiens liberalen Premierminister Alexander de Croo schlägt verbal zurück und spricht von einem aufrührerischen Spiel mit dem Feuer, wenn jemand aus innenpolitischen Gründen Kriege anzettelt.
Der Konflikt mit Brüssel ist der polnischen Führung völlig aus dem Ruder gelaufen, denn ohne EU-Gelder ist die Regierung verloren, urteilt der Außenpolitikchef der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza Bartosz Wielinski. Der rechte Justizminister agitiert unter der Parole „niemals zurück“ gegen einen Kompromiss. Keinen einzigen Zloty, die polnische Währung, will er zahlen. Allerdings ist die Europäische Kommission dann verpflichtet die Beträge von Zahlungen nach Polen abzuziehen.
Die Sorge vor einem nationalistischen Backclash war eine Ausrede der EU-Regierungen, nichts gegen die PiS-Regierung zu tun, argumentiert Bartosz Wielinski. Die überwiegende Mehrheit der Polen will die Bindung an Europa, nur eine Minderheit sind Nationalisten. Zum Streit mit der EU kommt der unmenschliche Umgang mit Migranten an der Grenze zu Belarus. Die Polizei nimmt Flüchtlinge fest, zerstört ihre Handys und schickt sie mit Gewalt schutzlos wieder zurück. Das ist Folter, sagt Wielinski, die Polen sind Christen und realisieren, was passiert. Umfragen zeigen einen Absturz der Regierungspartei, die bei einem Institut erstmals auf unter 30 Prozent Zustimmung kommt .
Die Europäische Union steht vor der schwersten Krise seit Breit, als sich die Briten verabschiedet haben. Im Unterschied zu damals will Polen die EU nicht verlassen. Aber die Warschauer Führung ist nicht alleine. Budapest und Ljubljana stellen sich auf die Seite Polens. Unterstützung kommt von westeuropäischen Rechtsaußenparteien.
Die polnischen Regierungsparteien setzen auf eine Radikalisierung ihrer Anti-EU-Rhetorik. Rechte Massenblätter denunzieren proeuropäische Politiker als Verräter. Die linksliberale Hälfte Polen blickt mit Schrecken auf die gefährliche Polarisierung. Wahlen sind erst in zwei Jahren geplant. Eine Vereinigung der verschiedenen proeuropäischen Parteien, die in einer vergleichbaren Situation in Ungarn vielen Menschen Hoffnung macht, steht bestenfalls am Anfang. Wichtigster Oppositionspolitiker ist Donald Tusk, der ehemalige Ratspräsident der EU. Tusk war bereits einmal Regierungschef. Mit seiner Bürgerplattform tun sich Linksliberale, Linke und die Bauernpartei schwer.
Die Europäische Union sollte gegenüber Polen die Doppelstrategie von harten EU-Richtern und respektvollen Regierungschefs beibehalten. Die polnischen Freiheitskämpfe sind fester Bestandteil der europäischen Geschichte. Das endgültige Abgleiten des wichtigsten Staates Osteuropas in autoritär-nationalistisches Fahrwasser wäre der Anfang einer neuen Spaltung des Kontinents. Auf die polnischen Bürger zuzugehen und gleichzeitig den nationalistischen Amoklauf eines Teils der Eliten zu blockieren, das ist zur Zeit die Kunst der Dosierung gegenüber Polen.