Das Chaos in Russland nützt der Ukraine, Bericht aus Kiew, 27.6.2023

  Das ukrainische Militär stellt am zentralen Michaelsplatz im Zentrum von Kiew russisches Militärgerät aus. Besucher besichtigen  einen ausgebrannten  Panzer vom Typus T-72 B und  ein Infantriefahrzeug Marke BMP-2. Die Ausstellungsmacher haben dazugeschrieben, wann und wo die schweren Waffen erbeutet wurden.

  Putin hat nach dem Angriff am 24.Februar 2023 eine triumphale Siegesparade in Kiew geplant, sagt die Dokumentarfilmerin Alina Gorlova, die mich durch die Plätze der Erinnerung führt. Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Die Show mit den Panzerwracks ist unsere ironische  Antwort, eine Parade unschädlich gemachten Kriegsgeräts mit der wir  beweisen, dass wir uns verteidigen können.   

Angefangen vom jungen Soldat am Informationstisch sind bei den Wracks am Michaelsplatz  alle über das  Chaos beim Kriegsgegner Russland informiert.  Die Revolte der Wagner Söldner ist seit Tagen das dominante Thema für die Ukraine. Wenn sich die russische Kriegspartei spaltet und die Russen gegeneinander kämpfen, dann werden sie weniger Kraft für den Krieg gegen uns haben, so lautet die  allgemeine Einschätzung.

  Die Filmemacherin Alina Horlova kommt gerade von der Frontstadt Kherson, in der sie den todbringenden Artilleriebeschuss vom  russisch besetzten Ostufer erlebt hat. Wie der Hauch der Hoffnung, dass Besatzung und  Krieg nicht ewig dauern werden, sind für sie die Nachrichten über den  Zwist bei den Angreifern.  

  Die Söldner der Wagner Gruppe haben ihre Positionen auf der russischen Seite geräumt. Eigentlich die beste Zeit für die Ukrainer militärisch vorstoßen, spekulieren Militärexperten.

  Kiew ist bei Tag eine lebendige Stadt, die Geschäfte sind offen und die Restaurants überfüll. Aber hinter der lebensfrohen Kulisse steht eine geprüfte Gesellschaft. Der Politikwissenschaftler Ivan Krastew  diagnostiziert eine Koexistenz zwischen  Normalität, die man in den Straßen auf den Straßen erlebt  und der abnormalen Wirklichkeit dahinter. Er nimmt für das Institut für die Wissenschaften vom Menschen aus Wien an einem Buchfestival teil, das seit dem 24.Februar 2022 zum ersten Mal durchgeführt wird. Sie treffen hier unglaublich kluge und nette Menschen, die lächeln und freundlich sind, sagt Krastew Und dann merkst du, viele dieser Menschen kommen gerade von der Front und gehen am nächsten Tag wieder an die Front zurück. 

Die russische Luftwaffe hat letzte Woche die schwersten Angriffe gegen die Ukraine seit Wochen geflogen. Es ist so, als ob man angesichts der Wirren um Prigoschin beweisen wollte, dass Russland noch zuschlagen kann. Ein Raketenteil landete in den frühen Morgenstunden von Freitag auf Samstag im 10.Stock eines Wohnhauses im Stadtinneren von Kiew. Fünf Personen sind tot, elf  zum Teil schwer verletzt.

 In dieser Nacht war vier Mal Luftalarm. Der Luftschutzkeller des Radisson Hotels, in dem zahlreiche ausländische  Besucher untergebracht sind, ist in der zweiten Tiefgarage eingerichtet. Aufgeschreckt von den lauten Alarmsirenen torkeln wir schlaftrunken entlang der Pfeile zum Bunker in den Keller. Die Betten des Hotels im Bunker sind ein Luxus, den es für die meisten Bürger  Kiews nicht gibt.

  Im vergangene Mai war es besonders schlimm, erzählen die Kiewer. Ununterbrochen  gab es Luftalarm. In 19 langen Nächten. Eine schwere Belastung für alle. Nach zwei solchen Nächten bewegt man sich nur mehr wie in Trance, sagt die Übersetzerin Hanna Kirijenko. Sie war mit ihrem Bruder im Luftschutzkeller, der  drei Kinder hat. Jede Nacht steht er vor der Entscheidung, ob die Familie geweckt werden soll.

Seit dem Mai mit seinem täglichen Sirenengeheul ignorieren viele Kiewer nächtlichen Alarm. Das Handy stellen sie auf lautlose und schlafen weiter. In den Bunker ist sie diesmal nicht gegangen, sagt die Studentin Victoria. Ich wusste, ich bin Gefahr, aber es wird einfach zuviel. Die Stadtgewaltigen empfehlen bei Gefahr zumindest ins Badezimmer zu gehen. Räume weit weg von  Fenstern sind weniger exponiert.

  Die Ukrainer sprechen  von „full scale invasion“, um zu unterstreichen, dass Russlands Aggression bereits 2014 mit der  Annexion der Krim begonnen hat. Das Arsenal Book Festival ist das bedeutendste Kulturfest der Ukraine. Für den Fall eines Luftalarms gibt es Pfeile zu den nächsten Luftschutzkellern. Themen wie Demokratie und Krieg, Frauen im Militär und russische Kriegsverbrechen prägen das Programm. Der Zustrom ist riesig und eine Bestätigung für die Entscheidung, die Veranstaltung mit vielen Panels und zahlreichen Präsentationen der Verlage zu riskieren.

 Wolodymir Selenskyi ist unter den ersten Gästen. Der Präsident blättert durch aktuelle Bücher. Gegenüber einem arabischen Fernsehteam betont er die Gefahr eines russischen Provokation im Atomkraftwerk Zaporischia. Ich frage Selenskyi was er von der österreichischen Solidarität mit der Ukraine hält? Er zögert und lobt dann das Engagement der europäischen Zivilgesellschaft. „Sie wissen ja selbst, was ihre Regierung tun kann und in welche Richtung sie, etwas langsam geht, sagt der ukrainische Präsident. „Ich kann nur den Rat geben, dass man sich von Russland nicht einschüchtern lassen darf.“

Woher die Zurückhaltung des offiziellen Österreichs beim sichtbaren Engagement für den ukrainischen Befreiungskrieg kommt, das ist eine Frage, die man immer wieder hört. Dass Raiffeisen International durch seine Geschäfte in Russland den Angriffskrieg mitfinanziert ist ein Argument, das schwer zu widerlegen ist.

 Die Übersetzerin Hanna Kirijenko sieht ihren Mann nur beim Urlaub von der Front.  Alle paar Tage telefonieren sie. Kirijenkos Ehemann gehört einem Verband von Sanitätern an, der Verletzte von der Front an Sammelstellen zum  nächsten Lazarett bringt. Er hat sich bei Kriegsbeginn freiwillig gemeldet und ist  wegen einer Krebserkrankung entlassen worden. Kaum war die Rehab vorbei, ist er Sanitätshelfer geworden.

 Warum hat sich  ihr Mann von Neuem zum Kriegseinsatz gemeldet, will ich von Hanna Kirijenko wissen?   Wir sitzen in einem georgischen Kaffeehaus mit Blick auf den Maidan, wo 2014 der proeuropäische Widerstand begonnen hat. Hanna Kirijenko zögert ein bisschen, dann sagt sie: wahrscheinlich ist er aus Verantwortungsgefühl gegangen.  Jemand muss diese Arbeit machen, sonst können wir nicht standhalten im Kampf für unsere Freiheit.

  Die Ukrainer führen nationalen Unabhängigkeitskrieg gegen ein Imperium, heißt es im Panel zur Weltpolitik auf dem Arsenal Buchfestival. So wie einst Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner gegen die Kolonialmächte von früher. Nur sind die Ukrainer Weiße und der globale Süden  ist antiamerikanisch. Jetzt kommt noch der abgebrochene Marsch der Söldner Prigoschins auf Moskau dazu, mit populistischen Slogans gegen Korruption und Lügen. Die Verwirrung ist perfekt.

  Arad Benkö, der österreichische Botschafter in Kiew, verfolgt von Amts wegen das ukrainische Internet. Der populärste Ausdruck in den sozialen Medien ist zur Zeit „Popcorn“, sagt Benkö. Dahinter steckt Schadenfreude. Eine Portion Popcorn aufmachen und sich die russischen Machtkämpfe  erste Reihe fußfrei ansehen, das sei das klügste, was die Ukraine zur Zeit tun könne, das sei der Kern der „Popcorn“-Botschaft.

  Hinter der Popcorn-Empfehlung in den ukrainischen sozialen Medien steht das Selbstbewusstsein eines Landes, das den Angriff des benachbarten Imperiums zurück gewiesen hat. Je zerstrittener die Führungscliquen in Russland sind, desto schwächer zeigt sich Putin, desto besser für die ukrainische Freiheit und damit auch für Europas Sicherheit.  So verstehe ich die Einschätzung der führenden ukrainischen Politexperten.

 Was im geografisch nahen aber politisch fernen Österreich über den Krieg und das russische Chaos gesagt wird, beweist mir, dass viele bei uns Putin immer noch für einen Faktor der Stabilität halten. Entgegen aller Evidenz. Die Ukrainer sind klarsichtiger, nicht das erste Mal.

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