Countdown in Caracas: was kommt nach Hugo Chavez?

   Hugo Chavez, einbalsamiert im Glassarg und ausgestellt für alle Ewigkeit, das hätte dem Showman sicher gefallen.  Ein lateinamerikanisches Lenin-Mausoleum wird in Caracas  trotzdem nicht entstehen. Denn der mit dem  bombastischen Pomp eines Diktators begrabene Chavez hat keine Diktatur errichtet.

  Die bürgerliche Opposition hält sich im Augenblick zurück, aber sie ist intakt. Seit den Anfängen des Chavismo  spuckt die Presse Gift und Galle. Die Fraktionen der sozialistischen Regierungspartei kontrollieren das Fernsehen, die  Ölindustrie und große Teile des wuchernden Staatsapparats.  Chavez-Nachfolger Nicolas Maduro, kein Militär, sondern ein Gewerkschaftler, muss die  bevorstehenden Präsidentschaftswahlen trotzdem erst gewinnen.

   Der todkranke Chavez hatte im vergangenen Oktober gegen einen starken Rechtskandidaten  55 Prozent  erreicht. Ob Venezuela auch ohne den charismatischen Caudillo als Zugpferd auf linksnationalistischem Kurs bleibt, wird wegweisend für ganz Lateinamerika  sein.

  Der Kontinent erlebt nach mehreren verlorenen Jahrzehnten  eine beispiellose Aufwärtsentwicklung. Brasilien gehört zu den dynamischen Mächten der Weltwirtschaft. In vielen Ländern geht die Armut  zurück. Die Militärdiktaturen sind verschwunden.  Generäle aus der düsteren Vergangenheit stehen vor Gericht.

  Trotz mancher  Abnützungserscheinungen und erratischer  Schwankungen tickt Lateinamerika weiter eher links.  Politikwissenschaftler unterscheiden gerne zwischen einer pragmatischen  Linken, die in Brasilien und Uruguay vorherrscht und dem populistischen Nationalismus in Venezuela,  Bolivien, Ekuador und  Argentinien. Das Spitzenpersonal des gemäßigten Flügels kommt  aus der Guerillabewegung, wie die  brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff.  In der Jugend kämpfte sie mit der Waffe in der Hand,  jetzt privatisiert sie Flughäfen, notiert bewundernd die Financial Times. Die linken Nationalisten scharten sich um den aus dem Militär kommenden Chavez.

  Hugo Chavez hatte  zwei entscheidende Atouts: den schier unerschöpflichen Fluss von Petrodollars aus den reichsten Ölvorkommen des Planeten und den direkten Draht zu Fidel Castro.  Chavez konnte dank des Öls  umverteilen ohne die Oberschicht ernsthaft zu beschneiden. Die Halbierung der Armut gilt als eine der großen Errungenschaften der vergangenen 14 Jahre.

     Mit den  Ölmilliarden finanzierte Hugo Chavez  Nachbarschaftspolitik  unter der Fahne des  lateinamerikanischen Freiheitskämpfer Simon Bolivar. Anders als Luiz Ignacio Lula da Silva in Brasilien hatte der Comandante  die Ambitionen und die Mittel grenzüberschreitend Politik zu machen. Das politische Know How bezog er direkt von den Brüdern Castro. 

 Jährlich fließt billiges Öl im Wert von 6 Milliarden Dollar auf die revolutionäre Insel. Im Gegenzug sind tausende kubanische Lehrer, Ärzte und Geheimdienstoffiziere für die Regierung in Caracas  im Einsatz. 

      Die Hilfe für Kuba hat Washington schwer verärgert. Aber wirklichen Lebensinteressen der Weltmacht  ist Venezuela  nie in die Quere gekommen. Ein großer Teil des Öls wird unverdrossen  auf dem nordamerikanischen Markt verkauft.  Die Staatsspitze in Caracas behauptet inzwischen ernsthaft, dass der CIA an der tödlichen Erkrankung des Präsidenten schuld sei.  Die Wahrheit ist wohl anders: es war die Besessenheit der USA mit dem islamistischen Terrorismus nach 9/11, der half, den Spielraum für die aufmüpfigen Lateinamerikaner zu erweitern.

  Die Financial Times verweist auf die Beispielwirkung Venezuelas für den halben Kontinent:  Hugo Chavez hat einst  den Delegierten der UNO-Generalversammlung die Lektüre von Naom Chomsky empfohlen, dem linken Fundamentalkritiker des amerikanischen Imperiums. Ganz in dieser Tradition gewährt der  Präsident Raffael Correa Wikileaks Gründer Julian Assange in den ekuadorianischen Botschaftsräumen in London Asyl. Ekuador stellte ganz so wie Venezuela phasenweise die Tilgung internationaler Schulden ein. Bolivien und Argentinien verstaatlichten ausländische Energieunternehmen.    Das Dogma des unumkehrbaren Trends in Richtung Privatisierung war  durchbrochen, auch wenn fraglich ist, wie gut  die neuen Staatsbetriebe  funktionieren.

   Venezuela selbst leidet inzwischen an massiver Geldentwertung. Ineffizienz  und Korruption gefährden sogar die Sozialprogramme. Der autokratische Stil des toten Comandante hat viele Fehlentwicklungen übertüncht.  Die scharfe politische Polarisierung macht  die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aber jetzt zu einer Systementscheidung. Die vom Chavismo geschaffenen  sozialen Parallelstrukturen in den Armenvierteln von Caracas werden ebenso zur Disposition stehen wie die wichtigste wirtschaftliche Lebensader für das  kubanische Regime. Und damit die ganze politische Architektur Lateinamerikas.