Brexit hat eine Grundsatzdiskussion um die Zukunft der Europäischen Union ausgelöst. Der Gipfel der 27 in Bratislava diese Woche ist die erste Runde in einem längeren Prozess, der die Verbindung zwischen den EU-Staaten neu regeln wird. Österreich hat sich aus den Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Sparpolitik, Freunden und Feinden eines Kerneuropas bisher gerne heraus gehalten. Bei dieser Zurückhaltung wird es auf Dauer nicht bleiben können.
Griechenlands linker Premier Alexis Tsipras versucht mit den anderen Südstaaten eine Front gegen die Sparpolitik aufzubauen. Dabei hat die EU-Kommission die Defizitregeln für Spanien und Portugal erst kürzlich aufgeweicht. Griechenland selbst hat den Tiefpunkt überwunden. Aber der Süden fühlt sich unter deutschem Kuratel. Kein sozialdemokratischer Politiker des Nordens war in Athen geladen. Ökonomisch ist eine Lockerung der Finanzpolitik sinnvoll. Politisch ist der Aufstieg regionaler Lobbys Gift für die EU.
Die osteuropäischen Mitgliedsstaaten eint der Reflex gegen eine gemeinsame Asylpolitik. Ungarns Orban und Polens Kaczynski wollen ohne die lästige Einmischung des Europaparlaments und der Europäischen Kommission mit den Partnern von Staatsmacht zu Staatsmacht verhandeln. Aber ausgerechnet aus Osteuropa kommt jetzt die Forderung nach einer Europaarmee. Dass eine Union, die keine gemeinsam Flüchtlingspolitik schafft, eine multinationale Streitkraft bilden soll, mag seltsam erscheinen. Der Vorschlag lässt sich aber auch positiv interpretieren. Selbst die größten Eigenbrötler scheinen zu realisieren, dass Nationalstaaten bei Sicherheitsfragen überfordert sind.
Die Selbsterkenntnis von den Grenzen der nationalen Souveränität kommt in Europa in Wellen. Jüngstes Beispiel ist die Enthüllung, dass der für Internetspionage zuständige Geheimdienstchef Frankreichs, Bernard Barbier, 2013 aus Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit gegenüber der amerikanischen NSA eine Fusion der französischen DGSE mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst BND vorgeschlagen hat. Die NSA zählt 60000 Mitarbeiter, der vergleichbare französische Dienst 3000. Gemeinsam könnten die Europäer aufschließen, rechnet der Nachrichtendienstmann vor. Ähnliche Töne waren nach der Affäre um das abgehörte Handy von Angela Merkel zu hören gewesen. Damals lehnten London und Paris ab. Inzwischen stehen die Briten vor dem Austritt. Frankreich erlebt bei Terrorangriffen die eigenen Schwächen. Multinationale Terrorabwehr, auch via Geheimdienst, ergibt sich eigentlich aus der Logik der Bedrohung.
Angela Merkel hält sich bedeckt. Zur Vorbereitung des Treffens der 27 in Bratislava hat die deutsche Kanzlerin mit zahlreichen Regierungschefs konferiert. Außer Gemeinplätzen ist aus Berlin zur Zukunft Europas aber wenig zu vernehmen. 2010 hat die deutsche Regierung einen Integrationsschub durch gemeinsame Euro-Schulden blockiert. Unter anderem aus Sorge um negative Auswirkungen für die CDU in einem schwierigen Wahlkampf. Die Gefahr ist da, dass Deutschland neuerlich bremst. Diesmal könnten die Konsequenzen fatal sein.
Österreich ist durch die Forderung aufgefallen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzukündigen. Angesichts der verheerenden geopolitischen Auswirkungen wurde der Vorstoß verworfen. Kanzler Kern machte mit dem Sager, dass Apple weniger Steuern zahlt als ein Wiener Würstelstand, internationale Schlagzeilen. Unklar bleibt, ob das Folgen hat, widersetzt sich doch Wien in Brüssel allen Vorschlägen in Richtung Steuerharmonisierung in der EU.
Gerne wird in Österreich dem als neoliberal verschrienen Brüssel die Vision eines sozialen Europas entgegen gehalten. Konkrete Vorschläge bleiben meistens aus. Jetzt hat in Italien Finanzminister Padoan die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung wieder aufgegriffen. Bei einem Budget von 50 Milliarden Euro könnte damit jeder neue Arbeitslose im Euroraum auf die Hälfte seines letzten Einkommens kommen, errechnet das deutsche Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. In die österreichische Europadiskussion fand die Idee nie Eingang, obwohl bei den von der Europäischen Kommission organisierten Seminaren auch das Wiener Sozialministerium vertreten war.
Gelingt es die Auseinanderentwicklung nach Brexit zu stoppen, wird ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten unvermeidlich sein. Der Frage, mit welchem Tempo sie fahren wollen, werden sich alle EU-Staaten stellen müssen.