Syrien gleicht einem unbehandelten Krebsgeschwür, das sich unaufhaltsam ausbreitet. Vor vier Jahren war die Türkei ein Beispiel für das demokratische Potential eines islamischen Landes. Als Folge der syrischen Verwerfungen ist jetzt der Bürgerkrieg mit den Kurden neu aufgeflammt. Ankara will verhindern, dass die kurdische PKK vom Zerfall des Nachbarstaates profitiert. Inspiriert von der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat nehmen Anschläge und Gewalttaten zu. Das Selbstmordattentat in der türkischen Hauptstadt bedroht die Wahlen Anfang November und damit den gesamten brüchigen Parlamentarismus der Türkei.
Die Vision einer in Europa verankerten islamischen Gesellschaft, die als Brücke zum unruhigen Nahen Osten fungiert, steht hinter dem Status der Türkei als Beitrittskandidat der Europäischen Union. Das Land von oben herab abzukanzeln, gehörte trotzdem lange zum Standardrepertoire vieler Politiker von Wien bis Paris. Bei seinem jüngsten Besuch in Brüssel war es plötzlich der türkische Präsident Erdogan, der den Europäern patzig Lektionen erteilte. Mit dem Hinweis auf die Millionen Flüchtlinge in seinem Land wischt die türkische Führung rechtsstaatliche Ermahnungen zur Seite. Der Syrienkrieg beflügelt den Machtrausch Erdogans und verstärkt die Spaltung zu einem Zeitpunkt, an dem Europa mehr auf die Türkei angewiesen ist als umgekehrt.
Näher an Europa heran rückt der syrische Bürgerkrieg auch durch den Kriegseintritt Russlands. Die russische Luftwaffe fliegt in Syrien so selbstverständlich Bombenangriffe, als ob es sich um eine Provinz im Kaukasus handeln würde und nicht um den Nahen Osten. Auch Amerikaner, Franzosen und Briten benützen den syrischen Luftraum für ihren Antiterrorkampf.
Putins Intervention verändert den Charakter des Krieges. Allerdings nicht so, wie Moskau behauptet. Die IS-Dschihadisten sind von den russischen Attacken wenig beeindruckt. Die Bomben zielen auf andere Rebellengruppen, die das Assadregime bedrohen. Nichts deutet darauf hin, dass das russische Engagement die Dschihadisten stärker gefährdet, als die seit Monaten laufenden Attacken der westlichen Allianz.
Baschar al-Assads Loyalisten, erschöpft durch ihren Krieg gegen die sunnitische Mehrheitsbevölkerung, können jetzt hoffen. Die russischen Kampfflugzeuge agieren als Luftwaffe des Regimes. Militärberater aus Moskau koordinieren eine Gegenoffensive der regierungstreuen Einheiten, an der auch die libanesische Hisbollah und iranische Militärs beteiligt sind.
Russland ist erstmals seit Jahrzehnten ein militärischer Faktor im Nahen Osten. Das gesamte geopolitische Gefüge der Region kommt ins Rutschen. Eine Achse Moskau-Teheran-Damaskus entsteht. Auch in Bagdad regieren schiitische Parteien. Zum Entsetzen der USA, die mit vielen Milliarden die irakischen Streitkräfte aufbauen, will die Regierung in Bagdad ebenfalls russische Luftangriffe gegen IS anfordern. Gegen den Iran und seine schiitischen Verbündeten stehen Saudi-Arabien und die traditionell prowestlichen sunnitischen Staaten.
Unklar ist, wie lange Putin sein nahöstliches Abenteuer durchhält. Das russische Fernsehen zelebriert die Angriffe wie ein TV-Spektakel. Bombenvideos und Raketenstarts füllen die Bildschirme. 46 Prozent der Russen unterstützen den Syrienvorstoß. Aber in Kriegen läuft selten alles nach Plan. Was, wenn Moskau stärker als beabsichtigt in die nahöstlichen Wirren hineingezogen wird? Wenn russische Flugzeuge abstürzen oder abgeschossen werden?
Um die schiitisch-russische Allianz für Assad zu schwächen, erwägt Saudi-Arabien die massive Aufrüstung befreundeter Rebellengruppen. Der syrische Bürgerkrieg würde noch blutiger werden. Es ist eine düstere Vision, gegen die sich Europäer und Amerikaner mit aller Macht stemmen sollten. Wegen Erfolglosigkeit hat Obama das amerikanische Trainingsprogramm für prowestliche Rebellen eingestellt. Zu einem neuen sunnitisch-schiitischen Wettrüsten in Syrien darf es nicht kommen.
Offiziell protestieren die Europäer gegen Putins Sprung nach Damaskus. Vor allem aus Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei. Russische Luftraumverletzungen, die es in der Ukrainekrise in Nordeuropa immer wieder gegeben hat, will Ankara nicht hinnehmen. Ihre Invasionspläne für Nordsyrien muss die Türkei jetzt aufgeben. Aber viele europäische Regierungen sehen auch positive Seiten im russischen Nahostengagement. Eine Aufteilung der Einflusssphären könnte zu einem Waffenstillstand zwischen dem Regime in Damaskus und einem Großteil der Rebellengruppen führen.
Moskau und Washington müssten wie einst im Kalten Krieg ihre Verbündeten, konkret die schiitischen und sunnitischen Machtblöcke, zwingen, die Fronten in Syrien einzufrieren. Die Dschihadisten des IS werden ihren Feldzug fortführen. Aber ohne eine baldige Begrenzung des Konflikts werden die syrischen Metastasen völlig außer Kontrolle geraten