Sideletter und Islamfeindlichkeit, Falter Maily 7.2.2022

Sideletter, also geheime Nebenabsprachen, hat es immer schon gegeben. Sie sind nötig, damit eine Regierungskoalition unterschiedlicher Parteien auch stürmische Zeiten durchhält, argumentieren die ÖVP-Veteranen aus früheren Zeiten. Tatsächlich: Nicht alles, was sich Regierungsparteien für mögliche Eventualitäten ausmachen, muss öffentlich sein. Aber ein Vertrag, paraphiert auf jeder Seite von Kanzler und Vizekanzler, noch dazu geheim und teilweise in offenem Widerspruch zu den der Öffentlichkeit präsentierten politischen Zielen, wie normal ist denn das? Wir haben uns in Nachbarländern umgehört. Deutschland zum Beispiel. Kann man sich vorstellen, dass es zum rot-grün-gelben Koalitionsvertrag unter Olaf Scholz noch ein zusätzliches Geheimabkommen gibt? Undenkbar, antworten mir alle Gesprächspartner. Höchstens von den Grünen weiß man, dass intern im Vorfeld ausgemacht war, dass Robert Habeck die erste Geige spielen wird, wenn Annalena Baerbock nicht Kanzlerin wird. Dann vielleicht Italien? Dort gibt es doch eine richtige Kultur der Deals, Abmachungen und Verschwörungen? Mein Freund und FALTER-Ko-Kolumnist Franz Kössler hat sich bis fast ganz nach oben in der italienischen Politkaste durchgefragt. Die Antwort war eindeutig. Geheime Abmachungen? Klar, die gibt es sonder Zahl. Aber die sind niemals schriftlich festgehalten oder gar paraphiert. Alle Koalitionäre wissen, was ihnen von den anderen versprochen wurde. Wenn die Postenbesetzung schlagend werden, dann ziehen alle ihre Notizen heraus und verhandeln neu. Nur unter Mario Draghi, dem aktuellen Regierungschef, ist das anders. Er  lässt Deals an sich abperlen. Als Finanztechniker ohne Parteizugehörigkeit setzt er mehr auf Qualifikationen als auf Parteifarben. Ich erspare Ihnen die Details des Rechercheergebnisses zu Belgien, wo der Proporz zwischen sieben Regierungsparteien aus zwei Volksgruppen eine Sonderdisziplin darstellt. Aufgeteilt sind staatliche Posten bis ganz nach unten in der Hierarchie. Ein geheimer Masterplan mit Brief und Siegel wurde nicht publik. Vielleicht haben die Belgier in Sachen Chatauswertung Nachholbedarf? Bei unserem türkisgrünen Sideletter ist das Okay von Werner Kogler und Sigi Maurer zu einem Kopftuchverbot für Lehrerinnen auf dem Weg eines ministeriellen Erlasses ein inhaltliches Problem. Die Grünen haben sich stets gegen diskriminierende Vorschriften ausgesprochen. Im Magazin Trend berichtet Josef Votzi, dass Ex-Kanzler Sebastian Kurz persönlich zum Telefon gegriffen hat, um den Spin von einem Abtausch zwischen Kopftuchverbot und der Nominierung von Lothar Lockl als ORF-Stiftungsrat zu verbreiten. Werner Kogler und Sigi Maurer bestreiten das Junktim. Mag sein. Der grüne Medienpolitiker Lockl ist jetzt für die Position des Stiftungsratsvorsitzenden angeschlagen, obwohl man sich  ein – bescheidenes – Gegengewicht gegen die ÖVP-Übermacht im Aufsichtsgremium des ORF wünschen könnte. Bildungsminister Polaschek meint, er hat andere Dinge zu tun, als die Kopftuch-Ankündigung umzusetzen. Immerhin. Aussagekräftiger ist die Kopftuchpassage vor allem für die ÖVP. Der Verfassungsgerichtshof hatte in der Vergangenheit das türkisblaue Kopftuchverbot für Schülerinnen als verfassungswidrig aufgehoben, weil damit muslimische Mädchen diskriminiert werden. Ein eindeutiger Befund. Kurz und Co wollten auf Islamophobie im Repertoire der ÖVP trotzdem nicht verzichten. Dass Frauen mit Kopftuch nicht nur beim Putzen und in den Besenkammern der Schulen ihren Job verrichten, sondern auch im Unterricht, ist der christlichen Partei ein Dorn im Auge, hat jemand auf Twitter geschrieben. Kanzler Nehammer will mit der Praxis der geheimen Sideletters Schluss machen. Vielleicht schaffen es die Grünen beim Koalitionspartner das seit langem angekündigte Transparenzgesetz durchzubringen? Ein Schlussstrich unter die Islamfeindlichkeit der Kurz-Zeit täte dem neuen Parteichef ebenfalls gut. Vielleicht hilft die Sideletter-Empörung der ÖVP in der multikulturellen Realität unseres Landes anzukommen? Integrationsministerin Susanne Raab, bisher eine Vorreiterin in Sachen Islamophobie, sagt dem Profil, dass sie das Thema Kopftuchverbot nicht mehr betreiben will. An der kulturellen und religiösen Vielfalt in den Schulen will sie nicht rütteln. Die Sideletter-Affäre bringt Bewegung in die österreichische Politik, vermerkt
Bild von Raimund Löw Ihr Raimund Löw
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