Martin Schulz, Jerusalem und der europäische Traum, 13.12.2017

Der Anlauf zu einer neuen Großen Koalition in Deutschland hat die Europafrage ins Zentrum gerückt. Während des Wahlkampfes glaubte Angela Merkel, dass es reicht, wenn sie auf ihre traditionelle Führungsrolle verweist. Martin Schulz übersah, wie eng der anfängliche Hype um seine Person mit den Erwartungen an einen ehemaligen Präsidenten des Europaparlaments verbunden war. Er verrannte sich im Gestrüpp der Innenpolitik. Emmanuel Macron musste seinen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire nach Berlin schicken, um den französischen Plan zu einer Neugründung Europas in die Jamaika-Verhandlungen einzubringen. Die historische Chance, dass Deutschland und Frankreich nach Brexit den Kontinent auf neue Füße stellen, schien zu verstreichen. Doch plötzlich ist alles anders.
Die Suche der SPD nach einem Hebel, um einer neuen Großen Koalition den Stempel aufzudrücken, wie das einst Willy Brandt im Kabinett von Kurt Georg Kiesinger gelang, macht die deutschen Sozialdemokraten zu den Schlüsselfiguren für die Zukunft Europas. Martin Schulz will einen Euro-Finanzminister, so wie Macron in Paris und Juncker in Brüssel. Das gesamte Regelwerk der EU soll in einem Konvent unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erneuert werden. Für 2025 verlangt der SPD-Chef die Ausrufung der Vereinigten Staaten von Europa. Wer nicht mitmacht, soll die EU automatisch verlassen. Bremser würden den durch Brexit vorgezeichneten Weg nehmen und wie Großbritannien nur lose mit Kerneuropa verbunden bleiben. Eine kühne Vision, für die es sich lohnt zu kämpfen.
Breite Konsultationen über ein Europa, das beschützt, wie der Pariser Slogan lautet, sind auch im Plan Emmanuel Macrons enthalten. Der französische Präsident geht implizit von einer Vertragsänderung aus. Konkretes Datum nennt er keines, anders als Schulz. Dass EU-Staaten sich dem großen Wurf verschließen könnten, ist Macron keine Überlegung wert. Der Franzose will Herzen und Hirne der Partner erobern.
Es ist eine faszinierende französisch-deutsche Dynamik, die hier entsteht. Um die rechtsextreme Marine Le Pen niederzuringen, pochte Macron auf den Euro und die Allianz mit Deutschland. Die Strategie ging auf, die innerfranzösische Blockade ist überwunden. Unter umgekehrten Vorzeichen setzt die SPD auf die französische Achse, um die eigene Schwäche auszugleichen. Die Revolutionierung Europas ist in beiden Staaten zum Vehikel des Kampfes um die Regierungsmacht geworden. Ein Kontrast zu anderen Regionen, in denen, wie in Österreich, lieber mit EU-Blockadedrohungen gepunktet wird.
Der britische Economist zeichnet Deutschland als die schlafende Prinzessin aus Dornröschen, die sich vom französischen Prinzen nicht wachküssen lässt. Dass Macron das Kunststück doch noch gelingen könnte, hat mit den harten Realitäten der Regierungsbildung in Berlin zu tun. Rechte und linke Nationalisten toben über den Vorstoß des SPD-Chefs. Aus der CSU heißt es, der Sozialdemokrat sei ein „Europaradikaler“. Merkel selbst bleibt unverbindlich. Aber für die Kanzlerin gibt es schlimmeres, als einen Partner, der den Preis für die Koalition über die Europapolitik hinauftreibt.
Ein Weckruf für die deutsche Sleeping Beauty kam aus Washington DC. Donald Trump hat mit seinem Jerusalem-Alleingang einmal mehr die völlige Gleichgültigkeit seiner Administration gegenüber internationalen Abmachungen demonstriert. Bei einer Friedenslösung soll Jerusalem Hauptstadt sowohl für Israel als auch für Palästina sein. Vom Palästinenserstaat rückt Amerika jetzt ab. Die Entscheidung stärkt die Ultrarechten in Israel und ist ein Schlag ins Gesicht für die Gemäßigten. Der Präsident will rechtsrechte Sponsoren zufrieden stellen und gemeinsam mit Israel seinen Aufmarschplan gegen den Iran verfolgen. Die Gefahren einer Radikalisierung treffen vor allem Europa. Dem Weißen Haus unter Trump ist das egal.
Jede neue Krise, die Trump verschärft, bestätigt, dass ein in Nationalstaaten organisiertes Europa in einer Welt zerrieben wird, in der das Recht des Stärkeren die einzige Regel ist.
Martin Schulz erinnert daran, dass die SPD die Vereinigten Staaten von Europa schon 1925 im Heidelberger Programm verankert hat. Der russische Revolutionär Leon Trotzki propagierte die Parole als Antwort auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Der britische Konservative Winston Churchill wollte mit der gleichen Vision die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges überwinden.
Der neue Anlauf der deutschen Sozialdemokraten für das alte Ziel der Vereinigten Staaten von Europa ist als Antwort auf das Chaos der Weltpolitik und als Reaktion auf das zerstörerische Comeback des Nationalismus gedacht. Auch Österreich wird sich positionieren müssen. Für türkisblauen Sprengstoff ist gesorgt.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*