Katastrophe Afghanistan

Im Newsletter Falter Maily habe ich am 2.3.2021 Überlegungen zu Abschiebungen in eines der gefährlichsten Länder der Welt angestellt. Tramper aus Europa haben früher in der afghanischen Hauptstadt Kabul gerne Zwischenhalt gemacht, wenn sie auf dem Weg zu einem Guru in Indien waren. Die Idee erscheint heute unvorstellbar. Afghanistan ist ein trauriges Symbol von Niedergang und Zerfall einer Gesellschaft geworden. Die wiederholte Abschiebung von Flüchtlingen hat auch in Österreich Proteste ausgelöst. Ein Anlass  die aktuelle Situation in dem Bürgerkriegsland genauer anzusehen.

 Die klarste Einschätzung kommt von Deborah Lyons, der zuständigen Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs. Was sie schreibt ist verheerend: seit Herbst 2020 haben Anschläge auf zivile Ziele in Afghanistan dramatisch zugenommen.

  In Kabul ist  Ende letzten Jahres eine Geburtenklinik angegriffen worden, mit Neugeborenen als Opfer. An der Universität Kabul haben Selbstmordattentäter ein Massaker unter den Studierenden angerichtet. Dazu kommen Mordanschläge gegen Richterinnen und Politikerinnen. Diverse islamistische Terrororganisationen von Taliban-Splittergruppen bis zu Ablegern des Islamischen Staaten trachten  danach die unter dem prowestlichen Präsidenten Aschraf Ghani aufgebauten Strukturen mit aller Macht ins Chaos zu stürzen.

  Die  Kriegshandlungen der islamistischen Taliban selbst gegen die verbleibenden Truppen der NATO und der USA sind weitgehend gestoppt worden. Ein Friedensabkommen, das noch unter Donald Trump zwischen den Taliban und den USA ausgehandelt wurde, sollte theoretisch bis April 2021 zum völligen Abzug der westlichen Soldaten führen. Aber daraus wird offenbar nichts. Bei der NATO in Brüssel und im Pentagon in Washington bereitet man sich auf eine Verlängerung der westlichen Militärpräsenz vor. Und das bedeutet: im Frühjahr könnten zusätzlich zu Attentaten und Bomben wieder kriegerische Auseinandersetzungen kommen.

In Washington hat sich offenbar jemand angesehen, was nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 passiert ist.  Michael Gorbatschow hatte gehofft, dass sich das prosowjetische Regime in Kabul aus eigener Kraft würde halten kann. Zwei Jahre später wurde der prorussische Machthaber Najibullah  gestürzt und die siegreichen Mudschaheddin verwüsteten das Land.  2021 fürchten die USA ein ähnliches Desaster. Garantie, dass die prowestliche Regierung in Kabul mit Unterstützung der NATO und der USA  überleben kann, gibt es natürlich keine. Aber aufgeben darf die Welt  das Land nicht.

  Die Abschiebungen erklärt das Innenministerium damit, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nicht überall gleich schlecht ist. Unter den Abgeschobenen sind auch Flüchtlinge, die in böse Kriminalfälle verwickelt waren und rechtskräftig verurteilt waren. In jedem einzelnen Fall werde geprüft, ob die Abgeschobenen persönlich bedroht sind, wenn sie „zurückgeschickt“ werden.  Wobei „zurückgeschickt“ ein falscher Ausdruck ist. Viele afghanische Flüchtlinge in Europa kommen aus Lagern im Iran und haben ihre nominelle Heimat noch nie gesehen.  

Mit den von der Grenzschutzorganisation Frontex organisierten Transporten schieben EU-Innenminister – mit welcher Begründung  auch immer – Menschen in ein Land ab, das europäische Verteidigungsminister für so unsicher halten, dass  NATO-Soldaten das Land nicht verlassen können. Ein krasser Widerspruch, findet Ihr Raimund Löw

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