Über die Strategie gegenüber Putin, Griechenland oder Defizitobergrenzen wird in Europa seit Jahren mit Verve gestritten. Die Außenhandelskompetenz der Union blieb unangetastet. Das surreale Finale der CETA-Verhandlungen mit Kanada stellt eine neue Stufe der Selbstbeschädigung der Europäischen Union dar. Was manchen als fröhlicher Widerstand a la Asterix erscheint, zeigt eine beunruhigende politische Entwicklung. Erstmals sind nicht rechte Populisten, sondern Globalisierungsgegner und eine linke Regionalregierung die treibende Kraft der Renationalisierung.
Seit langem wissen die Europäer, dass sie im Welthandel ihre Interessen nur unter Führung der EU-Außenhandelskommissarin geltend machen können. Trotzdem haben die Mitgliedsstaaten letzten Sommer Brüssel die Kompetenz entzogen, über CETA allein zu befinden. Die Folge ist, dass Paul Magnette, der Ministerpräsident der kleinen Wallonie, über ein Abkommen für 508 Millionen Europäer entscheidet. Wenn das so weiter geht, verlangt St.Pölten demnächst Mitsprache bei der EU-Russlandpolitik.
Die kuriose Situation ist darauf zurück zu führen, dass Kommissionspräsident Juncker dem massiven Druck einiger Mitgliedsstaaten, allen voran aus Österreich, nachgegeben hat, und das Kanada-Abkommen an die Zustimmung nationaler und im belgischen Fall regionaler Parlamente koppelte. Bundeskanzler Kern spricht von einem Tiefpunkt, vergisst aber, dass er diesen selbst herbeigeführt hat. Juncker musste seinen eigenen Juristischen Dienst übergehen, der die Kompetenz der EU-Organe belegte. Flugs hatten Anti-CETA-Lobbiesten Gutachter bei der Hand, die argumentierten, dass es sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt, bei dem nationale und regionale Parlamente gefragt werden müssen. Hinter dem Juristenstreit steht die politische Frage der Handlungsfähigkeit der Union.
Die einzige klare Gegenstimme kam von Italiens Matteo Renzi. In der Union haben wir die Außenhandelskompetenz zusammengelegt, hielt Renzi der Propaganda von Beppe Grillo auf der Linken und Silvio Berlusconi von rechts entgegen. Das Europäische Parlament und die Regierungsvertreter im Rat der EU seien vollständig demokratisch legitimiert und verfügen über das Know How. Kein anderer Regierungschef bewies Renzis Rückrat.
Bei den Handelsverträgen CETA mit Kanada und dem geplanten TTIP-Vertrag mit den USA sind, wie in unzähligen anderen Handelsverträgen, außergerichtliche Schlichtungsverfahren im Fall eines Streits zwischen Staat und Investor vorgesehen. Sie stehen im Zentrum der Kritik. Der schwedische Energiekonzern Vattenfall zieht auf diesem Weg wegen des deutschen Atomausstieges vor ein Investorengericht. Allein Österreich hat in 63 Handelsverträgen Investorenschutzregeln vorgesehen, international gibt es 3000 vergleichbare Deals. Sie sind längst Teil der Architektur des Welthandels, unabhängig von CETA oder TTIP. Den Regierungen ist es wichtiger, eigene Firmen bei Auslandsinvestitionen abzusichern oder umgekehrt Investoren ins Land zu holen, als Rechtsstreitigkeiten ausschließlich nach nationalen Gesetzen auszutragen. Jedes fremde Unternehmen weiß, dass die lokale Justiz in der aufgeheizten Stimmung eines großen Streits befangen sein wird. Investoren-Schiedsgerichte füllen eine Lücke, weil trotz internationaler Wirtschaftsverflechtungen der Rechtsstaat national bleibt.
Dass ausgerechnet CETA wegen der Investorenschiedsgerichte unter Beschuss kommt, ist nicht ganz verständlich: auf Drängen von SPD-Chef Gabriel wurde in Nachverhandlungen festgelegt, dass die EU und Kanada statt informeller Schlichter eine permanente Institution errichten. Fehlende Berufungsmöglichkeiten und mangelnde Transparenz sollen korrigiert werden. Streitschlichtung zwischen Investoren und Regierungen in einer internationalen Behörde, wie das CETA vorsieht, wäre ein Fortschritt.
Globalisierungskritiker fordern, dass die Weltwirtschaft reguliert wird. CETA kann mit seinen auf 1598 Seiten ausgetüftelten Regeln als Modell dienen, den im internationalen Vergleich anspruchsvollen europäischen und kanadischen Standards bei Umweltschutz oder Produktqualität Gewicht zu verschaffen. Input aus Nordamerika hat sich in Europa meist als Gewinn herausgestellt. Und umgekehrt. Der Rückzug auf nationale oder gar regionale Sonderregeln ist keine brauchbare Alternative.
Wenn das CETA-Fiasko nicht korrigiert wird, beschleunigt sich der Zerfall der Europäischen Union. Man wird dann nur auf die komplizierten Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien für noch viel schlimmere Brüche warten müssen.