Europa und Amerika nach dem Gipfelmarathon mit Joe Biden

Die Weltpolitik hat in den letzten Tagen fast so ausgesehen wie früher. Gipfeltreffen, Händeschütteln, Treueschwüre in die transatlantische Allianz zwischen Europa und Amerika. Gleichzeitig in Genf zwischen den Präsidenten der USA und Russlands harte Bandagen um die Menschenrechte. Der Schein trügt. Der Gipfelmarathon, den Joe Biden in Europa hingelegt hat, hat gezeigt, wie stark sich die Welt gerade verändert.

Deutlichstes Zeichen der verschobenen Machtverhältnisse ist, dass plötzlich alle über China reden. Die neue Weltmacht ist geografisch zwar weit weg und vielen Europäern und Europäerinnen fremd. Wirtschaftlich ist die Volksrepublik aber unglaublich erfolgreich. Die europäischen Regierungen wissen, dass ein dauerhafter wirtschaftlicher Aufschwung nach dem Ende der Pandemie ohne florierenden Handel mit dem Reich der Mitte schwierig wird. Aber die Kommunistische Partei Chinas regiert immer autoritärer. Peking hat in Hongkong eine breite Demokratiebewegung zerschlagen, die noch vor Kurzem Millionen Menschen mobilisieren konnte. Studentenführer und Medienherausgeber sind im Gefängnis. Eine Diktatur, die dem müden Westen wirtschaftlich davon läuft, das ist eine ungewohnte Situation.

Wenn Joe Biden über China redet, dann geht es vor allem um die Frage, wer den Ton angibt im Konzert der Großmächte. Für die Europäer ist der Pazifik weit weg. Die USA sind zwischen Japan, Korea und den Philippinen seit dem Zweiten Weltkrieg in der Region militärisch allgegenwärtig, was Peking stört. Lassen sich die Europäer von den USA in eine Konfrontation mit dem aufstrebenden Reich der Mitte hineinziehen, obwohl Europa seine eigenen Interessen hat? Wie ist es möglich, den Handel mit China auszuweiten, aber gleichzeitig Repression, Zensur und Propaganda zurückzuweisen? Diesen Fragen geht man in den europäischen Hauptstädten gerne aus dem Weg. Das Drängen Joe Bidens zwingt die Europäer, sich zu entscheiden, ob sie sich der US-Logik anschließen oder ob sie strategische Autonomie schaffen, wie das Frankreichs Präsident Macron verlangt.

Der russisch-amerikanische Gipfel in Genf bot ein Déjà-vu. Joe Biden stellte die Menschenrechte ins Zentrum und sprach über den prominentesten politischen Gefangenen Russlands, Alexej Nawalny. Putin bezeichnete Nawalny, ohne ihn beim Namen zu nennen, als Provokateur und replizierte ganz in der Diktion des Kalten Krieges mit dem Hinweis auf die Polizeigewalt in den Straßen Amerikas. Die gutwillige Interpretation des Biden-Putin-Gipfels, wonach die Beziehungen zwischen Moskau und Washington jetzt zumindest berechenbarer sind, stimmt. Wirklich beruhigend ist das nicht. Der Konflikt zwischen dem Westen mit seinen Ideen von Rechtsstaat und Demokratie und dem autokratischen Kreml mit seinen Angriffen gegen eine unabhängige Ukraine geht weiter. In Weißrussland hat es die russische Führung dem Regime von Langzeitdiktator Lukaschenko ermöglicht, die breiteste Demokratiebewegung Europas der letzten Jahre niederzuwerfen.

Joe Biden will eine Wiederbelebung der transatlantischen Allianz durch ein demokratisches Bekenntnis des Westens erreichen. Die liberalen Demokratien sind tatsächlich in der Defensive. Aber die Bedrohung aus dem Inneren ist genauso gravierend wie die geopolitische Konkurrenz mit den Autokraten in Moskau, Peking und anderswo. Kaum ist in den USA die Konterrevolution Donald Trumps vom 6. Jänner abgewehrt, versuchen die Republikaner in mehreren Bundesstaaten das Wahlrecht einzuschränken. Niemand kann sagen, ob in Washington in vier Jahren nicht wieder ein Klon Trumps oder sogar Trump selbst am Ruder sein wird.

Die Anstrengungen Joe Bidens, das linksliberale Amerika wieder vorwärtszubringen, sind auch im Interesse der Europäer. Bei der Verteidigung ihrer Demokratie und ihrer eigenen strategischen Interessen ist der alte Kontinent allerdings stärker als zuvor auf sich selbst angewiesen, vermutet

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