Eine EU-Wahl zwischen großen Gesten und diskreten Deals

 

Politischer Trendsetter in Europa ist traditionsgemäß Frankreich. Der Pariser Mai war das stärkste Signal für den Aufbruch der Jugend 1968. Jean-Marie Le Pens zweiter Platz bei den Präsidentschaftswahlen 2002 signalisierte den Aufstieg der Rechtsaußenparteien in der europäischen Politik. Das Nein der Franzosen zur europäischen Verfassung 2005 leitete die Zweifel am immer engeren Zusammenschluss der Völker ein. Wird die Nationale Front am 25. Mai in Frankreich erste Partei, was möglich erscheint, wäre der Vorrang des Nationalen wieder eine ernsthafte Option.

 

Die mobilsten Wähler des Kontinents finden sich allerdings in den Niederlanden. Mehr als die Hälfte der Bürger sind Wechselwähler. Alle Regierungsparteien der letzten Jahre suchen ihr Heil, indem sie gegen Brüssel Stimmung machen. Der Aufstieg des Islam- und EU-Hassers Geert Wilders schien lange Zeit nicht aufzuhalten. Die jüngsten Meinungsumfragen zeigen jedoch D 66 am ersten Platz, eine liberale Oppositionspartei, die in ihrer Europa-Begeisterung den österreichischen Neos kaum nachsteht. Mit Wilders ist nach wie vor zu rechnen, aber seit er offen zum Hinauswurf niederländischer Marokkaner aufruft, haben ihn viele Mitstreiter verlassen.

 

Fast skurril mutet die Situation in Großbritannien an. Die Meinungsforscher sehen Nigel Farages Unabhängigkeitspartei UKIP, die den sofortigen Austritt aus der EU betreibt, vor der oppositionellen Labour Party. Das Versprechen David Camerons, 2017 ein EU-Referendum abzuhalten, konnte den Vormarsch Farages nicht stoppen. Aber bei den Unterhauswahlen 2015 könnte UKIP leer ausgehen, behaupten die Demoskopen. In der Downing Street, wo sie die eigentliche Macht vermuten, wollen die britischen Wutbürger den polternden Solo-Darsteller Farage dann doch nicht sehen.

 

Von einer Scheinwelt, in der sich die großen Probleme lösen lassen, wenn sich die Völker in der Nussschale ihrer Nationalstaaten einigeln, träumt nicht nur die Rechte. Auch die erstarkenden Linksparteien in Frankreich, Griechenland und Deutschland hängen dem Trugbild nach.

 

Am Abend des 25. Mai wird Europa ein Bild des schillernden Durcheinanders bieten. Der Vormarsch antieuropäischer Populisten wird das markanteste Phänomen sein.

 

Ob Christdemokraten oder Sozialdemokraten die Nase vorn haben werden, wagt kein Demoskop ernsthaft zu prognostizieren. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker könnte so knapp ausfallen, dass es nach der Wahl noch Tage dauert, bis klar ist, wer gewonnen hat. Weil diverse eigenständige nationale Parteien noch offenlassen, welcher Fraktion sie beitreten.

 

Den Kommissionspräsidenten nominieren die Staats- und Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlen. Tatsächlich vergeben wird der Job dann durch eine Abstimmung unter den 751 Europaabgeordneten. Von Großbritannien und Ungarn ist bekannt, dass sie im Wahlergebnis keine Vorentscheidung für den Kommissionspräsidenten sehen.

 

Besonders der Sozialdemokrat Martin Schulz ist für David Cameron und Viktor Orbán ein rotes Tuch. Gewinnen die Sozialdemokraten, könnte ein monatelanges Tauziehen zwischen den Institutionen einsetzen. Merkel und Hollande, die mit beiden Kandidaten leben könnten, werden Großbritannien nicht vor den Kopf stoßen wollen. Aber die europäischen Parlamentsfraktionen haben sich darauf festgelegt, nur einen ihrer Kandidaten zu akzeptieren. Quereinsteiger wie die dänische Sozialdemokratin Hella Thorning-Schmidt oder der bürgerliche Ire Enda Kenny hätten im Europaparlament höchstens eine Chance, wenn nach Monaten der Blockade wirklich kein anderer Ausweg bleibt.

 

Falls die Wahlbeteiligung sinkt, werden die Staats- und Regierungschefs ihren Hinterzimmerdeals noch größeres Gewicht verleihen. Zu Unrecht. Zu US-Kongresswahlen gehen nur ein Drittel der Wahlberechtigten. Der Grüne Daniel Cohn-Bendit weist darauf hin, dass an den Wahlen für den Oberbürgermeister von Frankfurt nur 36 Prozent teilgenommen haben. Der Legitimität eines US-Kongressabgeordneten oder des Stadtvaters von Frankfurt tat dies keinen Abbruch.

 

Das nächste Europaparlament wird aus der heftigsten übernationalen Auseinandersetzung um Für und Wider der europäischen Integration hervorgehen, die es je gegeben hat. Es wird ein kompliziertes Haus werden, mit schrillen Figuren und destruktiven Schreiern. Aber keine andere Volksvertretung wird auf eine solche Berechtigung pochen können, die Richtung des Kontinents zu bestimmen.