Kaum ist die Feierstunde in Oslo vorbei, hat der Alltag Europa wieder fest im Griff. Gestritten wird auf Teufel komm raus wer, wann und mit welchen Kompetenzen Kontrolleure in Europas Banken schicken darf. Auf Hochtouren laufen die Personalintrigen über die Nachfolge für den amtsmüden Luxemburger Jean-Claude Juncker an der Spitze der Eurofinanzminister. Gefährlich rasch scheint die Dringlichkeit von Reformen zu schwinden.
Tatsächlich hat das Versprechen der Europäischen Zentralbank von diesem Sommer, den Euro mit unbegrenzten Mitteln zu verteidigen, schlagartig zur Entspannung geführt. Spekulanten, die auf den Untergang der Gemeinschaftswährungen gesetzt haben, verloren Milliarden.
EZB-Präsident Mario Draghi ist der einzige Europapolitiker, für den nicht nationale Interessen im Vordergrund stehen, preist Helmut Schmidt bei einem bewegenden Auftritt im Europaparlament den italienischen Banker. Der SPD-Weise vergisst hinzuzufügen: ohne den Segen Angela Merkels aus Berlin hätte Draghis Ankündigung seine Wirkung verfehlt. Die Kanzlerin stellte sich offen gegen die Deutsche Bundesbank.
Jetzt haben die Europäer ein paar Jahre Zeit, um die Union krisenresistenter zu machen.
Wenn die deutschen Bundestagswahlen geschlagen sind, wird das grüne Licht für die nächsten Schritte kommen: ein eigenes Budget für die Euroländer als finanzieller Anreiz für die Kompetenzverlagerung nach Brüssel und die Vergemeinschaftung eines Teils der Staatsschulden.
Gleichzeitig verschiebt sich die Geografie der Europäischen Union. Erstmals akzeptiert die Europäische Kommission in ihrem jüngsten Fahrplan die Idee eines Kerneuropas rund um den Euro. Die andere Seite der Medaille: es muss auch ein stabiler Platz für die Nicht-Euro-Länder geschaffen werden.
Großbritannien wird sich an weiteren Integrationsschritten nicht beteiligen. Ein glatter Austritt der ehemaligen Weltmacht wäre ein schwerer Schlag für die Stellung der EU in der Welt. Gelingt es dagegen die Briten in der europäischen Gesetzgebung zu halten, obwohl sie außerhalb Kerneuropas bleiben, entstünde ein neues System der konzentrischen Kreise.
Das komplizierte Verhältnis zwischen den Euroländern mit Sitz und Stimme in der Europäischen Zentralbank, und den als „Outs“ empfundenen Briten, Polen oder Schweden, die zwar über tausend Fäden mit den Partnern verbunden sind, aber – noch – auf einer eigenen Währung beharren, beherrscht die aktuelle Auseinandersetzung um die Rolle der Frankfurter Zentralbank bei der geplanten europäischen Bankenaufsicht.
Die richtige Balance zwischen „Ins“ und „Outs“ würde den Weg zu losen Vereinigten Staaten von Europa rund um die harte Achse eines Euro-Bundesstaates weisen. Die in vielen Ländern ungeliebte EU-Erweiterung, ohne die es die Erfolgsgeschichte der Integration nie gegeben hätte, könnte weiter gehen.
Gerald Knaus, kreativer Vordenker und Begründer der außenpolitischen Denkfabrik European Stability Initiative, erinnert, dass die EU ihren Friedensnobelpreis auch erhalten hat, weil sie sich nach Osten geöffnet hat. Nach 1945 haben die USA Westeuropa demokratisiert und stabilisiert. Der EU ist nach 1990 für Osteuropa ein ähnliches Kunststück gelungen.
Gerald Knaus diagnostiziert eine regelrechte Revolution im Denken über Grenzen. 16 400 Kilometer Landgrenzen wurden abgeschafft. Ohne große Probleme haben sich die reichen Staaten gegenüber weniger entwickelten Nachbarn geöffnet. Im Gegenzug setzen sich europaweit rechtsstaatliche Prinzipien durch. Federführend waren die nicht gerade als Gutmenschen verschrienen Innenminister. Sie können seither auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden zurückgreifen.
Bei den Verhandlungen um Visafreiheit für Staaten, die von einem EU-Beitritt noch weit entfernt sind, wiederholt sich dieser Mechanismus. Die Europäische Kommission verlangt sogar Gesetze gegen die Diskriminierung von Homosexuellen, um die Visumpflicht aufzuheben, erinnert der Chef der European Stability Initiative Gerald Knaus. Selbst Serbien, traditionell gegenüber sexuellen Minderheiten wenig aufgeschlossen, sagte um der begehrten freien Fahrt nach Europa willen ja zu Antidiskriminierungsregeln.
Ist einmal ein Vereinigtes Europa der konzentrischen Kreise fix, würden auch die Erweiterungsverhandlungen mit der Türkei ihren Schrecken verlieren. Die boomende Türkei könnte Mitglied einer EU light werden, der auch die weltoffenen Briten, die eigenbrötlerischen Tschechen und die sozialen Skandinavier angehören. Die Eurostaaten würden zum Gravitationszentrum eines größeren Ganzen.
Das Happy End einer Zeit schwerer Erschütterungen mag wenig realistisch klingen. Aber dass die Europäer ihre Vertrauenskrise ohne Visionen nicht meistern werden, das haben inzwischen auch die härtesten Pragmatiker erkannt.