Die vergessene Zeitbombe Kaschmir

In Südasien bestand Mitte Mai das Risiko eines Atomkrieges, darauf deuten Informationen hin, die Wochen später publik wurden. In Europa ist die Gefahr kaum wahrgenommen worden. Nach einem Terroranschlag in Kaschmir eskalierte ein militärischer Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan. Als Indien Raketenangriffe auf pakistanische Städte ausweitete, breitete sich in der pakistanischen militärischen Führung Panik aus. In Islamabad wurde der Einsatz von Atomwaffen erwogen. Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich die Trump-Administration ein, um eine verheerende Eskalation zu stoppen, berichtet der aus Kaschmir stammende und in den USA lehrende Politikwissenschaftler Mohamad Junaid. Der gefährlichste Konflikt zwischen den Nuklearmächten seit Jahrzehnten konnte eingefangen werden.

Spannungen zwischen Indien und Pakistan sind stets von den Atomwaffen der verfeindeten Nachbarn überschattet. Indien verfügt seit 50 Jahren über schätzungsweise 150 Sprengköpfe, Pakistan zog vor 25 Jahren mit einem ähnlichen Potential nach. General Asim Munir, der Armeechef und starke Mann Pakistans, erklärt die Hindus zu ewigen Todfeinden. Tariq Ali, der aus Pakistan stammende britische linke Autor und Aktivist, sagt, einen derart ausgeprägten religiösen Hass habe es in der obersten Führung des Landes bisher nicht gegeben. Der indische Regierungschef Narenda Modi von der nationalistischen Hindupartei Bharatiya Janata betreibt die Diskriminierung von Minderheiten in dem 1,4 Milliarden-Volk. Er unterstellt den 200 Millionen Muslimen, dass sie keine echten Inder sind und mit Pakistan unter einer Decke stecken. Ein grausamer Terroranschlag in Kaschmir am 22. April brachte die Gegensätze zum Überkochen.

Bewaffnete ermordeten in einem idyllischen Tal in Kaschmir auf grausame Weise 26 indische Touristen. Die Empörung in der Öffentlichkeit war riesig. Die Regierung in New Delhi machte Pakistan für das Massaker verantwortlich. Islamabad wies die Beschuldigung zurück und ließ die Behauptung verbreiten, dass Indien selbst hinter dem Anschlag stecken könnte. Der pakistanische Geheimdienst gilt als der Drahtzieher von blutigen Terroranschlägen gegen das Finanzzentrum von Mumbai 2013 mit hunderten Toten und das Parlament in New Delhi 2001. In Indien vergleicht man die Wirkung der Touristenmorde in Kaschmir vom 22. April gerne mit dem 7. Oktober in Israel, ungeachtet der unterschiedlichen Dimensionen. Der Anschlag wurde von den muslimischen Vertretern Indiens unmissverständlich verurteilt.

Kaschmir ist der einzige mehrheitlich islamische Bundesstaat Indiens. Mutige Publizistinnen wie  Arundhati Roy haben die unter dem Vorzeichen des Anti-Terror-Kampfes betriebene Repression des indischen Militärs dokumentiert, das in dem Gebiet de facto als Besatzungsmacht agiert. Dazu zählten willkürliche Verhaftungen, die Sprengung der Häuser von Verdächtigen und Vergewaltigungen durch Polizei und Soldaten. In der indischen Öffentlichkeit sind diese Anklagen kaum wahrgenommen worden.

Unter der Regentschaft des hinduistischen Premier Narenda Modi war es gelungen, die immer wiederkehrenden Proteste der Jugend gegen die Repression zu ersticken. Das Parlament in New Delhi hat den Sonderstatus von Kaschmir, der den Erwerb von Grund und Boden durch Auswärtige eingeschränkt hat, aufgehoben. Die Proteste hielten sich in Grenzen. Die Bevölkerung schien sich damit abgefunden zu haben, dass der Traum nationaler  Selbstbestimmung, wie auch immer die aussehen würde, unrealistisch ist. Ein Drittel Kaschmirs gehört zu Pakistan, was auch keine verlockende Perspektive ist. Die Ermordung der Touristen vom 22. April hat die Illusion zerstört, dass der Konflikt der Vergangenheit angehört.

Der indisch-pakistanische Konflikt wurde dieses Mal mit Drohnen, Raketen und Luftangriffen ausgetragen. Wer gewonnen hat oder wer den Kürzeren zog, ist unklar. Beide Seiten sehen sich als Sieger. Internationale Kommentatoren sehen jedoch als heimlichen Gewinner China, obwohl die Volksrepublik gar nicht beteiligt war. Im entscheidenden Luftkampf dürfte es jedoch den von Pakistan eingesetzten chinesischen Kampfflugzeugen gelungen sein, mehrere indische Jets abzuschießen, die aus französischer Produktion stammen. Die Details werden von Indien als Staatsgeheimnis gehütet. Die chinesische Rüstungsindustrie jubelt. Für das Exportgut Waffe ist es der letztlich entscheidende Qualitätsbeweis, in einem kriegerischen Konflikt zu bestehen.

Zwischen Indien und Pakistan ist es diesmal rechtzeitig gelungen, die Stopptaste zu drücken. Die Mischung aus Terrorismus, nationalistischer Politik und der Bereitschaft zu militärischer Gewalt macht ungelöste Nationalitätenkonflikte überall hoch gefährlich.   

ZUSATZINFORMATIONEN

Umkämpfte Region Kaschmir

Der Maharadscha der Provinz Kaschmir war 1947 bei der Teilung Indiens Hindu, die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch. Zu einer Volksabstimmung, ob die Region zu Indien oder Pakistan gehören soll, ist es nie gekommen. Dafür wurde Kaschmir geteilt. Seit 1949 gab es wiederholt um die Region Krieg. Für die Bevölkerung wäre die Vereinigung in einem autonomen Staat die beste Lösung.